INTERVIEW
Lothar Matthäus:In Italien waren wir eine echte Gruppe“
Der Triumph von Rom: Der Weltmeister von 1990 über das Finale gegen Argentinien. Ein RUND-Interview von Matthias Greulich.

 

Überall, wo Lothar Matthäus ist, die Kameras sind schon da. Die Kameras filmen ihn auch an einem Sonntag in Köln, wenn er im Büro seines Managements Autogramme schreibt. Sein Manager Wim Vogel hat ihm einen Stapel Autogrammkarten auf den Schreibtisch gelegt, die Matthäus in beachtlichem Tempo signiert. Er weiß, wie das geht. „Vor 15 Jahren, kein Witz, da mussten wir bei Bayern München 1.000 Autogrammkarten abgeben. In der Woche", sagt er und schaut routiniert in die Kamera. Bevor die Aufnahmen weiter gehen, bleibt noch Zeit für ein Gespräch über die Nationalelf.

 

Lothar Matthäus 1990Zwischen Berti und Franz in der Nacht von Rom: Lothar Matthäus zeigt den Weltpokal Foto Pixathlon

 

RUND, Herr Matthäus, haben Sie sich das Finale der WM 1990 später noch einmal angesehen?
Lothar Matthäus: Nein, noch nie. Ich habe eine Kassette zuhause, aber ich gucke mir eigentlich selten Spiele aus meiner Vergangenheit an. Was mir aber auffällt. Wenn ich alte Szenen sehe: Der Bereich, in dem gespielt wurde, war früher 60 Meter lang, heute ist es 35 mal 35 Meter.

RUND: Sagen Sie uns etwas zur damaligen Grundformation?
Lothar Matthäus: Wir haben im 3-5-2-System gespielt. Mit Augenthaler – Kohler – Buchwald als Dreierkette. Wenn der Gegner nur mit einer Sturmspitze gespielt hat, ist der Buchwald ein bisschen ins Mittelfeld hinter mir gekommen. So hat er ja auch im Endspiel gegen Maradona gespielt. Ich war der Sechser im zentralen Bereich. Außen waren Brehme und Berthold. Ich auf ähnlicher Linie mit den beiden. Davor waren auf den Halbpositionen Häßler und Littbarski. Und vorne waren die zwei Stürmer Völler und Klinsmann. Das war die Grundformation. Wenn Völler verletzt war hat Riedle gespielt. Wenn im Mittelfeld was getauscht worden ist, hat Olaf Thon oder Uwe Bein gespielt.

RUND: Alles ähnliche Spielertypen.
Lothar Matthäus: Das waren eigentlich alles Zehner, die da gespielt haben. Alles offensiv ausgerichtete Mittelfeldspieler. Es war kein typischer Sechser dabei. Das war eigentlich der Guido Buchwald. Und ich hatte bei Inter Mailand nicht nur die Zehn auf dem Rücken getragen, ich war auch der offensive Mittelfeldspieler. Anders wie gesagt bei der Nationalmannschaft: Es war abgesprochen, dass ich diese Sechser-Position etwas aus der Defensive heraus spielte. Ich hatte das in Mönchengladbach und bei Bayern schon gespielt. Ich würde sagen zwischen sechs und acht. Wenn ich nach vorne gegangen bin wusste ich, dass Littbarski oder Häßler sich etwas tiefer fallen lassen würde. Das hat hervorragend funktioniert.

RUND: Damals ist noch keine Mannschaft ohne Libero ausgekommen.
Lothar Matthäus: Das hat Milan als erfolgreichste Klubmannschaft auch gespielt. Franco Baresi stand immer fünf Meter diagonal hinter Costacurta. Augenthaler immer fünf Meter diagonal hinter Kohler.

RUND: Hat Ihnen Franz Beckenbauer im Endspiel vorgegeben, seltener vors Tor zu gehen als noch gegen Jugoslawien?
Lothar Matthäus: Es war natürlich ein anderes Spiel. Ein Endspiel. Wir waren etwas vorsichtiger. Und wir haben vielleicht auch nicht mehr so befreit gespielt wie am Anfang. Wir wussten die Argentinier sind gefährlich, zwar nicht mehr so wie 1986, aber es war eine gefährliche Mannschaft. Nach vorne waren wir immer gut aufgestellt. Man hat mich nicht unbedingt gebraucht, um als einziger Spieler Akzente zu setzen. Aber: Wenn wir doch ganz ehrlich sind, hat einer der vereinzelten Vorstöße von mir zum Elfmeter geführt.

RUND: Als Sie den Ball nach rechts zu Rudi Völler durchsteckten.
Lothar Matthäus:  Das hatten Rudi Völler und ich vorher im Training in Erba einstudiert. Auf eigene Initiative. Ich glaube es war nach dem Halbfinalspiel gegen England. Ich nahm Rudi Völler zur Seite: „Rudi, bleib mal da auf dem Platz. Ich komme aus dem Mittelfeld und du gehst in den Raum halblinks oder halbrechts und ich spiel dir den Ball durch.“. Genau diese Situation hat zu dem Elfmeter geführt.

RUND: Den Elfmeter gegen Argentinien hat Andreas Brehme mit rechts verwandelt.
Lothar Matthäus: Andy Brehme war für mich das Phänomen schlechthin. Man wusste nicht, ob er Links- oder Rechtsfuß ist. Vielleicht weiß er es selber gar nicht. Er ist auch nach innen gegangen, wie gegen Holland, wo er den Ball mit rechts aufs lange Eck geschlenzt hat. Den Elfmeter hat er mit rechts geschossen. Aber 70 oder 80 Prozent hat er mit links gemacht.

 

DFB-Team Weltmeister 1990Die Weltmeister von 1990 vor dem Achtelfinale gegen die Niederlande: (o.v.l.) Thomas Berthold, Bodo Illgner, Klaus Augenthaler, Guido Buchwald und Stefan Reuter (für den im Finale Thomas Häßler spielte). (U.v.l.) Pierre Littbarski, Jürgen Klinsmann, Andreas Brehme und Lothar Matthäus. Foto: Pixathlon

 

RUND: Vier Jahre später, bei der WM 1994, ist eine gute Mannschaft im Viertelfinale gegen Bulgarien rausgeflogen. Warum?
Lothar Matthäus: Berti Vogts‘ erste Weltmeisterschaft. Man macht Fehler. Franz Beckenbauer hat 1986 auch Fehler gemacht. Berti Vogts hat einen ganz großen Fehler gemacht. Er hat Spielern vertraut, die sein Vertrauen missbraucht haben. Und es gab keine klare Hierarchie in der Mannschaft. Wir hatten schwierige Charaktere dabei. Stefan Effenberg, Mario Basler, Thomas Strunz, Mathias Sammer. Die wollten alle spielen. Waren alles Leitwölfe. Berti Vogts hat es nicht verstanden, eine Hierarchie in die Mannschaft rein zu bekommen.

RUND: Wie würden Sie die Struktur der WM-Mannschaften beschreiben?
Lothar Matthäus: 1990 waren wir eine Gruppe. 1986 waren es Grüppchen. Und 1994 waren es Einzelspieler. So würde ich es grob sagen. Natürlich hatten wir auch 1994 Grüppchen, aber jeder hat nur an sich gedacht. Speziell von diesen Spielern, die vier Jahre zuvor noch nicht dabei waren. Dann hat Berti Vogts Andreas Brehme und Rudi Völler für die Ersatzbank mitgenommen. Wagner war glaube ich als linker Verteidiger gesetzt und vorne war Riedle. Völler und Brehme waren, wie ich 1998, das fünfte Rad am Wagen. Und wenn ich einen Spieler mit diesen Verdiensten und diesem Namen mitnehme, dann lasse ich ihn spielen und vertraue ihm. Denn keiner setzt sich fünf, sechs Wochen in aller Ruhe auf die Bank. Wenn Völler und Brehme gespielt hätten wären wir wieder diese Gruppe gewesen, die wir 1990 hatten. Eine Gruppe, die den Trainer gestärkt hätte.

RUND: Völler spielte dann im Verlauf des Turniers.
Lothar Matthäus: Völler kam dann und war der Ansprechpartner für Berti Vogts. Der Völler wusste über alles mehr als ich. Ich komme mit Berti heute super klar. Aber 1994 hat er mir als Kapitän misstraut. Wenn ich 1990 etwas gesagt habe auf dem Platz, war das wie in Stein gemeißelt. 1994 wusste die Mannschaft, dass der Trainer gar nicht mit dem Kapitän redet. Die dachten sich: Sorry, der Kapitän kann uns sagen, was er will, das interessiert uns nicht.

RUND: Was lief in den USA noch anders als 1990 in Italien?
Lothar Matthäus: Wir wohnten 30 Kilometer außerhalb von Chicago. Der Golfplatz war ja direkt beim Hotel. Die Spieler konnten morgens um sieben schon zum Golfspielen gehen. Hat er erlaubt, der Berti. Vorm Training zweieinhalb Stunden Golfspielen. Dann Frühstücken und zum Training. Das sind alles Dinge gewesen, die nicht gehen. Dann gab es natürlich auch ein bisschen Probleme mit den Frauen. Unsere Frauen waren 1990 auch dabei. Aber wir haben Regeln gehabt. Die Frauen hatten sehr großen Einfluss auf ihre Männer. Dadurch ist auch eine schwierige Stimmung in die Truppe hineingekommen.

RUND: Für Berti Vogts sind die Spielerfrauen noch heute schuld am Ausscheiden gegen Bulgarien.
Lothar Matthäus: Es lag nicht an den Spielerfrauen. In erster Linie hat‘s Berti durch seine fehlende Hierarchie in der Mannschaft verursacht.

Welche Grüppchen hatte Franz Beckenbauer 1986 für das Turnier in Mexiko nominiert?
Lothar Matthäus: Da waren die Kölner, die Hamburger, die Münchner. Dann gab es den ruhigen Tisch mit Briegel, Magath, Karl-Heinz Förster, Brehme. Es waren Grüppchen, die gegeneinander arbeiteten.

RUND: Was war mit der Suspendierung von Uli Stein bei der WM 1986?
Lothar Matthäus: Es kann immer passieren, dass ein Spieler durchdreht. Wir können offen sagen. Uli Stein war zu diesem Zeitpunkt in jedem Training der bessere Torhüter. Toni Schumacher hat jedes Trainingsspiel verloren und Uli Stein gehalten wie ein Weltmeister. Aber Toni Schumacher war die Nummer eins und hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Warum soll der Trainer dann den Torwart wechseln?

RUND: Und die Gegentore im Finale von 1986 hatten viel mit der Höhe zu tun?
Lothar Matthäus: Das lag an der Höhe. So weit verschätzen kann man sich nicht. Der Ball bleibt länger in der Luft, fliegt höher.

RUND: Wie war es, als Sie bei der WM 1998 in die Nationalelf zurückkehrten?
Lothar Matthäus: Ich war in Topform. Trotz des hohen Alters. Hatte überragend gespielt in der Bundesliga. Und dann komme ich zur Nationalmannschaft dazu und ich fühle mich als Fremdkörper. Mit 120 oder 130 Länderspielen. Ich war vorher der Kapitän und auf einmal kommst du dazu und wirst irgendwo geduldet. Weil sich die Hierarchie in diesen drei Jahren verändert hat. Wenn der Trainer sagt: Hey, ich brauche ihn, weil Mathias Sammer verletzt ist, weil Olaf Thon ein Problem hat. Wenn ich ihn brauche, dann spielt der auch.

 RUND: Die Europameister von 1996 besetzen viele Schlüsselpositionen im deutschen Fußball. Die 1990er nicht. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Lothar Matthäus: Es ist was dran. mir auch schon häufig aufgefallen. Die 96er halten mehr zusammen. Steffen Freund, Andy Köpcke und Mathias Sammer sind beim DFB. 1996 beherrscht zurzeit den DFB. Littbarski, Buchwald, Brehme und ich haben unsere Erfolge aufzuweisen. Die haben in Deutschland nicht Fuß gefasst. Warum weiß ich nicht. Vielleicht ist das ein zu großer Schatten für den ein oder anderen Sportfunktionär im deutschen Fußball.

RUND: Mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung des Fußballs hat das nichts zu tun?
Lothar Matthäus: Es war keine andere Generation. Wahrscheinlich hat man dort Leute in Position gebracht, die dann ihre „Spezln“ mitgebracht haben. Rudi Völler könnte ja Andreas Brehme auch als Trainer in Leverkusen anstellen, wenn er von ihm überzeugt ist. Warum er das nicht macht, ich weiß es nicht. Mathias Sammer oder Oliver Bierhoff haben sich die 1996er-Spieler hergeholt. Wir hatten ja damals auch einen super Kontakt. Wir waren eine funktionierende Mannschaft. Nicht nur auf, sondern außerhalb des Platzes. Aber irgendwie hat sich das alles so ein bisschen entfernt.

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