REPORTAGE
Die Blutgrätsche zum Hören
Manfred Simon geht mit dem 1. FC Köln auf Auswärtsfahrt und verpasst kein Heimspiel. Eine Geschichte über einen Fußballfan, der keinen Fußball schauen kann – er ist seit seinem fünften Lebensjahr blind. Von Karl von Luckwald.

 

Manfred SimonBei jedem Heimspiel singt er mit: Manfred Simon Foto Karl von Luckwald

 

In den überfüllten Straßenbahnen zum Stadion lässt der Dampf von Schweiß und Bier die Scheiben beschlagen. Der FC hat ein Heimspiel, die Stadt Köln ist im Fußballfieber. Manfred Simon erreicht nach einem längeren Fußmarsch den Sondereingang der Ost-Tribüne. Er holt seine goldene Dauerkarte mit Geißbockemblem aus der Tasche und schiebt sie ins elektronische Lesegerät. Das befreundete Ehepaar, das ihn begleitet, hakt ihn unter. Er dirigiert sie zu den Plätzen, wo er meist neben seinem besten Kumpel Thorsten sitzt, der heute keine Zeit hat.

Osttribüne, Unterrang, Reihe 2, Platz 5, 6 und 7. Der Rasen, auf dem die Spieler sich aufwärmen, ist nur wenige Meter entfernt. Nachdem der Stadionsprecher die Aufstellungen vorgelesen hat, erklingt die Vereinshymne. Tausende 
Fanschals werden in die Luft gereckt. Das ganze Stadion bis auf den Gästeblock singt. Manfred Simon so laut, dass man seine Stimme auf dem Oberrang hören könnte. Der Schiedsrichter schaut auf seine Uhr und pfeift. Anstoß. Die Lautsprecher
 verstummen. Die Menschen singen weiter. Manfred Simon setzt sich. Er greift nach dem Sender, der um seinen Hals hängt, dann zieht er die Kopfhörer auf. Die Hände sind starr zwischen die Knie geklemmt und sein Blick fixiert einen Punkt zwischen Spielfeld und Gegentribüne.

Unterrang, Reihe 2, Platz 6: Das ist sein Platz, schon seit über sieben Jahren. Sein Name steht inzwischen sogar auf der Sitzschale. Von hier aus hat man phänomenale Sicht auf das Spielgeschehen. Sehen kann jedoch nichts. Manfred Simon, 46, ist blind und das seit seinem fünften Lebensjahr.

Januar 1970 in Köln-Nippes: Seit Tagen klagt der Fünfjährige über Kopf- und Rückenschmerzen. Die Eltern fahren mit Manfred ins Krankenhaus - ohne zu ahnen, dass dieser Tag ihr Leben verändern wird. Der Schock war groß für Günter und Johanna Simon als die Ärzte ihnen von der schweren Hirnhautentzündung berichten, die ihm das Augenlicht nehmen wird. Anstatt den 
Kleinen wie geplant auf eine normale Schule zu schicken, melden sie ihren Sohn in der Louis-Braille Schule für Blinde und Sehbehinderte im nahegelegenen Düren an. Dort findet sich Manfred schnell zurecht und lernt sein Schicksal zu akzeptieren. Nach seinem Abschluss macht er eine Ausbildung zum Telefonist und zur Telefon-Marketing-Fachkraft. „Auf der Schule war man unter seinesgleichen, da wurde meine Behinderung schnell zur Normalität für mich“, sagt er heute.

Manfred möchte nicht als Außenseiter betrachtet werden. Mit seinen blinden Mitschülern versteht er sich, doch richtige Freundschaften werden daraus nie. Stattdessen spielt er mit Thorsten aus der Nachbarschaft. Mit dem Klingelball kicken oder Tandem fahren. „Das war als wenn ich sehen konnte. Ich gehörte dazu.“ Bis heute hat Manfred Simon nur sehende Freunde und Thorsten ist immer der Beste geblieben. Mit zehn Jahren nimmt ihn der Vater zum ersten Mal mit zum FC. Es ist ein Vorbereitungsspiel gegen den Stadtrivalen Fortuna Köln. Als Behinderter darf Manfred im alten Müngersdorfer Stadion auf der Tartanbahn sitzen und ist so nah am Spielgeschehen wie kaum ein anderer im Stadion. Sein mittlerweile überdurchschnittlich geschultes Gehör erkennt das dumpfe Klatschen wenn ein Spieler gegen den Ball tritt und das wuchtige Aufeinanderprallen von Körper und Rasen bei einer Blutgrätsche. Seine Fantasie liefert ihm die fehlenden Bilder. Wenige Meter hinter ihm ertönen die Fangesänge aus tausenden von Kehlen die ihn wie Wellen überschwemmen. Diese geballten Emotionen auf engem Raum lösen noch nie gekannte Gefühle bei ihm aus. „Im Stadion habe ich gemerkt, dass ich am öffentlichen Leben teilnehmen kann“, sagt er heute. Dort spürte er keine Blicke neugieriger Passanten auf der Straße. Im Stadion ist er kein Sonderfall, erst recht kein Einzelgänger. Im Stadion ist er einer von Tausenden, die zusammen leiden, fluchen und jubeln. Seitdem ist Simon FC-Fan – „ist der Virus drin“, wie er sagt.


 

Manfred SimonLeiden mit dem 1. FC Köln: Manfred Simon lässt kein Heimspiel aus Foto Karl von Luckwald

 

Auf seinen Kopfhörern hört Simon Wolfgang Gommersbach und Thorsten Bank, die abwechselnd das Spielgeschehen kommentieren. Beide sind im Jugendbereich des Klubs tätig. Seit 2004 arbeiten sie als Reporter für den Kommentatoren-Service für sehbehinderte Zuschauer. Der Start war schwierig. Was sollten sie sagen, was konnten sie weglassen? „Wir haben in den ersten ein, zwei Jahren unheimlich viel Feedback bekommen und haben daraus gelernt, wie es die Nutzer am liebsten wünschen“, sagt Gommersbach. Präzise und in temporeichen Wortketten wandeln sie die Ballstafetten auf dem Rasen in Sprachbilder um.

Wenn er mit Thorsten und anderen Freunden zu Auswärtsspielen fährt und mit ihnen im Block steht, vermisst er den Kommentar. „Da frage ich dann ab und zu was passiert ist.“ Bei Heimspielen ist das
 anders. „Man bekommt jeden Pass und jeden Abschluss sofort geschildert. Man ist besser im Spiel integriert. Das ist so als wäre ich mitten auf dem Spielfeld. Ich bin quasi immer auf Ballhöhe.“
 Nach gelungenen Kombinationen seiner Mannschaft folgt ein seliges Grinsen, bei einem Fehlpass nimmt die Mimik ernste Züge an. Die Hände sind immer noch steif zwischen die Knie geklemmt.

Der FC spielt nicht gut, bei brenzligen Situationen hält Simon die Luft an. Aber zu selten konnte er in dieser Saison anschließend erleichtert ausatmen. „Mist“ murmelt er regungslos. Der FC ist auf der Verliererstraße – mal wieder. Früher, noch vor zwanzig Jahren, war das eine Seltenheit. 
Es gab tatsächlich Zeiten in denen der 1. FC Köln zu den Topmannschaften in Europa gehörte und der Verein ehrfürchtig als das Real Madrid des Westens betitelt wurde. Von diesem Vergleich ist außer der weißen Trikotfarbe nichts übriggeblieben. Der einstige Deutsche Meister pendelt zwischen Erster und Zweiter Liga. Die jüngere Fangemeinde kennt es nicht anders.

Für die älteren hingegen ist es eine Qual. Fragt man Manfred Simon nach den persönlichen Highlights mit dem FC, muss er lange zurückdenken. Er erzählt so präzise und detailliert als wäre alles gestern gewesen. Die Meisterschaft von 1978 natürlich. Die bleibe unvergessen. Erst den entscheidenden 5:0 Sieg in St. Pauli im Radio verfolgt und noch am späten Abend zum Geißbockheim gefahren, um die Titelhelden zu feiern. „Die ganze Saison war ein Top-Ereignis" und eine absehbare Entwicklung, nachdem der Verein zuvor sechs Jahre hintereinander die Saison unter den ersten Fünf beendete und dabei stets in den internationalen Wettbewerb einzog. So richtig ins Schwärmen bringen ihn 
die Reisen in die Ferne. Unvergessene Europapokalnächte in Antwerpen, Lüttich und Waregem.
 Und dann war da ja noch Juventus. Die Tour nach Turin zum UEFA-Cup Halbfinale der Saison 1989/90 - ohne Thorsten aber mit seinen Brüdern. „Man fährt zig Kilometer und zwei Tage dem FC hinterher. Morgens hin, abends zurück und am nächsten Morgen hab‘ ich mir am Hauptbahnhof ein Brötchen gekauft und bin arbeiten gegangen“. Der FC verlor gegen die Italiener mit 2:3, doch was viel eher in Erinnerung bleibe sei die Atmosphäre, die viel fanatischer gewesen 
sei als in Deutschland. „Da hat es zwei Fankurven gegeben, die Stimmung gemacht haben. Das war nicht so wie bei uns. Die Italiener, die haben den Fußball richtig gelebt.“ Und Simon? Simon hat alles nur gehört – 
mit den Ohren gesehen, wie er gerne sagt. Simon geht trotzdem zu jedem Heimspiel und fährt durchschnittlich zu neun Auswärtsspielen pro Saison. 



Als der FC zu einem vielversprechenden Angriff kommt, überschlägt sich die Stimme von Thorsten Bank. Einige Zuschauer erheben sich. Ein gewaltiges Raunen kommt von den Tribünen, wenn man die Schallwellen sehen könnte, müsste es wie Lawinen aussehen. Simon hört wie ein Kölner den Ball unhaltbar ins linke Tor-Eck hämmert. Das Stadion tobt, Simon tobt. Sofort ruft er seinen Kumpel Thorsten an: „Jaaa, Tor für den FC!“ Spätestens als die obligatorische Tor-Musik ertönt und das Stadion in kölschen Melodien ertrinkt, weiß 
auch Marie-Luise Siems, dass der FC getroffen hat. Sie steht draußen am Sondereingang und sortiert Papiere. Siems ist die Behinderten-Beauftragte des FC. „Mein Nervenkostüm ist zu schwach um das Spiel zu verfolgen“ sagt sie.

Aber jetzt geht sie doch auf die Tribüne und schaut sie nach den Menschen, von denen sie viele seit 16 Jahren kennt, so wie Manfred Simon. Beide telefonieren regelmäßig und quatschen über dieses und jenes. Ihr liegt etwas daran auch außerhalb des Stadions zu hören, wie es ihm geht. „Jeder der hier zum FC kommt soll wissen, dass er etwas Besonderes ist.“ Dafür unternimmt die 67-jährige Einiges. Mit Ihrem Förderverein veranstaltet sie regelmäßig Freizeitveranstaltungen, stellt den Kontakt zu den Profis her oder organisiert Wandertage. Sie kennt jeden mit Namen und umarmt ihn zur Begrüßung. „Wir müssen unseren Fans etwas bieten.“

Über mangelnde Aufregung kann sich Manfred Simon nicht beklagen, ihn nimmt die sportliche Talfahrt mit. „Hier ist immer was los. Ein Tiefschlag folgt dem anderen“, sagt Simon. „Aber der FC ist für mich ein Teil meines Lebens. Das ist so wie Bruder und Schwester. Der gehört einfach dazu. Das muss sein." 

 

Manfred Simon und Marie-Luise SiemsSie kennen sich seit 16 Jahren: Manfred Simon und Marie-Luise Siems Foto Karl von Luckwald

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