THEMENWOCHE
Joe Cocker der Liga
Ein Original des VfB Stuttgart und des SV Werder Bremen: Ludovic Magnin vermochte alleine durch Körpereinsatz, seinen Gegner aus der Bahn zu werfen. Jede seiner Bewegungen war ein dramaturgischer Akt, jede Geste verhieß Gefahr. Von Oskar Beck

 

Ludovic MagninWie Joe Cocker in Woodstock: Ludvic Magnin beherrscht den Urschrei Foto Pixathlon

 

Im August 2006 ist Ludovic Magnin das unhaltbarste Tor seiner Karriere gelungen. Es gab Freistoß, Alex Frei flankte scharf in den Strafraum, Magnin schraubte sich hoch – und rammte den Ball mit der Stirn in die Maschen. Es war ein Kopfball wie aus dem Lehrbuch – doch statt in einen kollektiven Jubelschrei auszubrechen, verstummte das Stadion. „Lähmendes Entsetzen“, meldete anderntags die „Bild“-Zeitung.

Magnin war zum Opfer seines ungezügelten Bewegungsdrangs geworden. Bevor er nichts tut, köpft er den Ball lieber ins eigene Tor. So wie an jenem Tag in Stuttgart, als er kurz vergaß, dass sein Schweizer Nationalmannschaftskumpel Frei nebenbei auch für Dortmund spielt – und dessen Hereingabe im Rahmen eines Energieanfalls deshalb ins Tor des VfB Stuttgart katapultierte, statt den Kopf einfach tatenlos einzuziehen.

Nichtstun ist nichts für Magnin. Dieser notorische, hyperaktive Tausendsassa steht 90 Minuten lang unter Starkstrom. Wenn man ihm einen Bewegungsmelder an die Gliedmaßen heften würde, würden die Zeiger glühen und ständig ausschlagen – wie Magnin mit seinen Armen und Beinen.

Ludovic Magnin hat das Stillhalten nie gelernt. Irgendwas zuckt bei ihm immer, und wenn es nur ein Backenmuskel im Rahmen der Gesichtsakrobatik ist. Das beginnt schon mit der Nationalhymne. Wo andere ergriffen und in sich gekehrt die Augen schließen, blinzelt der Schweizer Vorwärtsverteidiger in die Kamera und grüßt die Freunde daheim mit einem spitzbübischen Augenzwinkern.

Dann geht’s los. Magnin bläst die Backen auf und schiebt die Brust raus. Mit großer Mimik und praller Gestik macht er das Publikum heiß, rudert mit den Armen, schlenkert mit den Beinen, stochert mit allen Vieren, verbeißt sich in den Gegner und erbeutet den Ball. Anschließend hechelt er mit heraushängender Zunge, raumgreifenden Schritten und dem Kopf unter dem Arm an der linken Seitenlinie entlang Richtung Eckfahne, doch ehe er durchs Marathontor vollends aus dem Stadion rennt, gelingt es ihm oft genug, im letzten Moment abzubremsen und den Ball perfide vors feindliche Tor zu flanken – wobei er die künstlerische Eleganz der Aktion meistens durch ein Spreizen seiner zehn Finger betont, wie man es normalerweise nur bei Joe Cocker sieht, wenn er sich dem Mikrophon nähert und gefühlvoll „With a little help from my friends“ singt.

 Magnin ist unter den Kickern der Cocker.

Sogar dessen seit dem legendären Woodstockkonzert berühmten Urschrei hat er im Repertoire, aber vor allem das unvergleichliche Zucken und Zappeln. Bei Magnins aufwändiger Art, Fußball zu spielen ist jede Körperbewegung ein dramaturgischer Akt und der kleinste Schritt ein pompöser Spagat, und wenn es Robert Lembke mit seinem heiteren Beruferaten „Was bin ich?“ noch gäbe, würde der gebürtige Lausanner als typische Handbewegung seine weit ausgebreiteten Arme windmühlenartig kreisen lassen – mit dieser listigen Hilfsmaßnahme gelingt es ihm im Spiel auf verblüffende Art regelmäßig, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, wenn er wie ein Storch im Salat nach vorne spurtet. An seinen besten Tagen dreht er auf, als sei er einem Comic entsprungen. Oder der Geisterbahn.

„Für viele Medien“, hat Magnin sich einmal leise beschwert, „gelte ich als Zappelphilipp.“ Dabei lieben ihn alle. Die Fans haben eine Schwäche für Originale mit kleinen Macken. Bei Erich Cantona war es der hochstehende Kragen am Trikot, Ronaldinho tritt ohne sein grinsendes Lächeln gegen keinen Ball, der deutsche Altmeister Didi Hamann macht mit seinen nervösen Zuckungen im Gesicht jeden Gegner verrückt, und David Beckham unterwirft sein Spiel dem modischen Wandel der Frisuren - nur die Glatze mit Haarreif hat da bisher gefehlt.

Magnin hat die liebenswerteste Macke. Angefangen hat angeblich alles, als er 17 war, daheim in Lausanne. Binnen Jahresfrist ist er da 15 Zentimeter in die Höhe geschossen. So ein jäher, später Schub, argwöhnen Wachstumsforscher, kann zu unkoordinierten Bewegungsmustern führen, begleitet von einem öffentlichen Schmunzeln und Schenkelklopfen – oder gar, siehe oben, zu Eigentoren.

 Doch Magnin macht aus seinem Markenzeichen das Beste. Als ihn einmal Sebastian Deisler, der Bayernstar, rüde anging, geriet sofort der ganze Ludovic in Bewegung, wie angestochen ist er mit beiden Beinen hochgesprungen, hat auf der Klaviatur seiner Körpersignale geklimpert, gezuckt und gezappelt, gefuchtelt und mit den Zähnen geknirscht. Auch ohne Worte hat ihn der Schiedsrichter sofort verstanden: Rot für Deisler.

 Diese Fähigkeit, den Körper sprechen zu lassen, gilt in der Fachwelt als nonverbale Kommunikation. Samy Molcho, ein Guru auf diesem Gebiet, erklärt es so: „Der Körper ist ein Handschuh der Seele, seine Sprache das Wort des Herzens. Jede innere Bewegung, alle Wünsche und Gefühle drücken sich durch unseren Körper aus.“

Magnins Körper ist ein Ausdruck der geballten Leidenschaft. Wer ihm als Gegenspieler in die Augen schaut, könnte genauso gut in einen Gewehrlauf schauen. Als „Energieriegel auf zwei Beinen“ ist er einmal trefflich beschrieben worden. Selbst beim unwichtigsten Einwurf erweckt er mit hochrotem Kopf den Eindruck, als wolle er den Weltrekord im Ballweitwurf brechen – und es mehren sich die Stimmen, die angesichts seines mit Händen, Füßen und dem Flattern seiner schütteren Frisur unterstützten Vorwärtsdrangs fürchten, dass die Zuschauer in den ersten Reihen eines Tages Schienbeinschoner und Kopfschutz brauchen.

 Ist Magnins Bewegungsvielfalt waffenscheinpflichtig? Nicht einmal er selbst bleibt davon verschont. Seine Verletzungen der letzten Jahre: Etliche Muskelfaserrisse, ein Sehnenriss, ein Bänderriss und mehrere Knieblessuren – einmal, nach diversen Brüchen des Nasenbeins, Jochbeins und Kiefers, klagte Ludovic Magnin auch noch über „Blutergüsse im Gesicht.“

Sowohl die Brüche als auch die Blutergüsse waren so schlimm, dass sie nur von einer seiner leidenschaftlichen Grimassen herrühren konnten: Entweder ist es beim Blinzeln während der Hymne passiert - oder beim Aufblasen der Backen.

 Klicken Sie hier, um die anderen Texte der Themenwoche 50 Jahre Bundesliga zu lesen.

Der Text ist in RUND #17_11_2006 erschienen.

Zurück  |