BLIND DATE
Fußball als Hörspiel
Riko Zellmer ist HSV-Fan. Einer, der gerne über Abseits, nicht gegebene Elfmeter und Kopfballduelle diskutiert. Auch da in immer mehr Stadien spezielle Blindenreportagen angeboten werden – denn Zellmer ist blind. Von Johannes Schweikle

 

Riko Zellmer
Im Block der Blinden: Riko Zellmer verfolgt aus zweiter Reihe (oben rechts) den Live-Kommentar der Sportstudenten (unten). Foto: Gisi Rameken

 

Wie bei jedem Heimspiel sitzt Riko Zellmer in Block 3C, Reihe 2. Seinen Stammplatz neben dem Geländer hat er mit einer beigefarbenen Teppichfliese gepolstert. Rikos zusammengekniffene Augen blinzeln, seine Finger trommeln gegen die Knie, auf dem Oberschenkel wippt der zusammengeklappte Blindenstock.

Der Hamburger Sportverein liegt im eigenen Stadion mit 0:1 zurück. In der 37. Minute schießt David Jarolim: in die dritte Etage. Da kommentiert Riko Zellmer: „Das Tor steht n büschen tiefer.“
In Reihe 1 sitzt Christoph Stuckenbrok, ein drahtiger Sportstudent mit blondem Pferdeschwanz. Im Stil eines Radioreporters erklärt er jeden Pass und erzählt vom strahlenden Sonnenschein, „aber die Fans in der picke-packe vollen Arena sind bislang noch nicht so richtig auf ihre Kosten gekommen“. Zwei Infrarotsender übertragen seine Schilderungen auf die Kopfhörer von zehn blinden Fußballfans. In der Halbzeit schwärmt Riko: „Das ist echter Luxus. Ich kriege die Stadionatmosphäre mit und das Spiel.“

Riko Zellmer sitzt aufrecht, sein Gesicht ist konzentriert, die dunkelbraune Bürstenfrisur nach hinten gekämmt. Er ist 40 Jahre alt und von Geburt an blind. Aber schon als Junge ging er „Fußball kucken“, wie er das nennt. Wenn sein Bruder mit der B-Jugend in den Dörfern südlich von Hamburg antrat, war Riko dabei. Die Tischgespräche bei Zellmers kreisten um den Fußball, und an den ganz guten Tagen ließen die Jungs auf dem Bolzplatz Riko mitspielen: „Sie haben den Ball angehalten, und ich durfte schießen. Ich weiß, wie hart der Ball ist und warum der Torwart Handschuhe trägt.“

Das Finale der Champions League erlebte er in einem bizarren Zweikanalton, einem Mix aus dem Kommentar des deutschen Fernsehens und dem englischsprachigen World Service der BBC. Seit zweieinhalb Jahren bietet sein HSV ihm den Luxus der Blindenreportage. Die Universität Hamburg leistet die Arbeit, ohne dass es die Blinden etwas kostet: Dort hält der Sportwissenschaftler Broder-Jürgen Trede das Seminar „Die Livereportage für Blinde und Sehbehinderte“. Seine Studenten reißen sich regelrecht um die Einsätze am Mikrofon. „Ich komm gar nicht mehr dazu, selbst zu reportieren“, sagt Trede. Er sitzt mit einem kleinen Radio neben seinen drei Reportern, die sich abwechseln, und reicht ihnen auf Karteikärtchen die Zwischenstände der anderen Bundesligaspiele.

„Man studiert auf diese Auftritte hin“, sagt Christoph Stukenbrock. Als Kind saß er bei Fußballübertragungen vor dem Fernseher, drehte den Ton ab und sprach seinen eigenen Kommentar auf den Kassettenrekorder. Im Seminar hat er sein Handwerk besser gelernt als mancher TV-Kommentator. Wenn der Ball nicht rollt, lässt er Statistisches einfließen oder erzählt Randgeschichten. Er erklärt, warum gerade ein Raunen durchs Stadion geht, und er tut sein Bestes, um den Blinden eine räumliche Vorstellung des Spiels zu vermitteln: die linke Außenbahn, der Kurzpass, der Schuss von der Strafraumgrenze.

 

Riko Zellmer„Ich weiß, warum der Torwart Handschuhe trägt“: HSV-Fan Riko Zellmer. Foto: Gisi Rameken

 

Im Stadion von Manchester United sind die 42 Kopfhörerplätze regelmäßig ausverkauft. Von Arsenal London bis zu den Glasgow Rangers haben viele Vereine der englischen Premier League Pionierarbeit für blinde Fans geleistet. Der deutsche Fanclub „Die Sehhunde“ holte sich in England diese Anregung und führte vor sechs Jahren bei Bayer Leverkusen die Blindenreportage in Deutschland ein. Mittlerweile gibt es diesen Service auch auf Schalke sowie in Gladbach und Hannover. Für die Weltmeisterschaft im nächsten Jahr hat Broder-Jürgen Trede dem DFB ein Angebot unterbreitet.

Als Dozent sensibilisiert er seine Studenten für die Sprache. Den Satz „Das hab ich nicht genau gesehen“ müssen sich seine Reporter verkneifen. Sonst kommt nämlich prompt der Kommentar: „Wir ja auch nicht.“ Und die Floskel „blind gespielt“ geht gar nicht. Obwohl Riko Zellmer da überhaupt nicht empfindlich ist. „Das sag ich ja manchmal selbst.“ Im Gegenteil, er reagiert allergisch, wenn ihm einer auf die Mitleidstour kommt. Jeden Morgen fährt er allein mit S-Bahn und Bus zur Arbeit, quer durch Hamburg, zweimal Umsteigen inklusive. Riko stimmt Klaviere bei Yamaha, und er freut sich schon auf den Montagmorgen, wenn er mit den Kollegen über Fußball fachsimpeln kann. Da kann er mindestens so gut mitreden wie die anderen.

Nach dem Sieg des HSV über den VfB Stuttgart diskutierte Riko in der S-Bahn mit einer Gruppe Stuttgarter Fans. Die wunderten sich, als Riko mit seinem Blindenstock und in die Ferne gerichtetem Blick das Kopfballtor des HSV kommentierte: „Euer Stranzl hatte doch gar keine Chance, so wie der van Buyten ihn übersprungen hat.“

Der Text ist in RUND_1_08_2005 erschienen.

 

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