PORTRÄT
London Calling
Das erste Outing eines deutschen Fußballprofis: Thomas Hitzlsperger hat sich in einem Interview über seine Homosexualität geäußert: Über einen Besuch beim 52-fachen Nationalspieler im Frühjahr 2011. Von Matthias Greulich. Ein Auszug aus dem Buch „Die Fußball-Nationalmannschaft. Auf der Spur zum Erfolg".

 

Thomas HitlspergerIm Londoner East End: Thomas Hitzlsperger. Foto: Heiko Prigge

 

Das gibt’s doch gar nicht, das müsst ihr euch mal vorstellen. Thomas Hitzlsperger ist vom Training direkt zu unserem Treffpunkt ins Büro des Fotografen gefahren und muss grinsen: Er kennt die Gegend genau, er wohnt gleich um die Ecke. Mit wenigen Dingen kann man in London mehr Eindruck schinden, wo sich fast alle für jeden Termin durch die immer größer werdende Stadt quälen. Es hat mal jemand ausgerechnet, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit in der Metropole zu Zeiten der Pferdekutsche höher war als auf den chronisch verstopften Straßen im Internetzeitalter. Jeder hier hat seine eigene Art, mit der Langsamkeit umzugehen: Büronachbar Ali ist 20 Kilometer mit dem Fahrrad von Wimbledon in die City gefahren, abends fährt er dieselbe Strecke zurück. Und das immer bergauf.

Der Profi von West Ham United ist bester Laune, und das nicht nur wegen seines kurzen Heimwegs. Am Vorabend hat er sein erstes Spiel für die „Hammers“ gemacht, eine Zeitung titelt: „Instant Hitz“. Er war sofort da und hat das 1:0 im FA Cup gegen den Zweitligisten Burnley mit links reingehämmert. Als „The Hammer“, wie sie ihn schon nannten, als er noch bei Aston Villa spielte, ausgewechselt wurde, stehen die Zuschauer in Upton Park an diesem kalten Montagabend im Februar auf. Sie applaudieren dem späteren „Mann des Spiels“, den sie schon beim Anpfiff mit großer Herzlichkeit begrüßt haben. Passt fast zu gut, um wahr zu sein, dass er nun bei dem Klub mit den gekreuzten Hämmern im Wappen spielt.

„Was wollt ihr essen?“, fragt Hitzlsperger. Mit dem Fotografen Heiko Prigge, der seit 14 Jahren in London lebt, diskutiert er das Für und Wider einige Restaurants in der Nachbarschaft im East End. Die beiden einigen sich auf einen Italiener, der alles andere als „posh“, also edel, ist. Die Einrichtung hat Spermüllcharme, es ist urgemütlich und der Tisch wackelt ein wenig. „Aber das Essen ist super“, sagt Hitzlsperger, der sich in seinem halben Jahr bei Lazio Rom zu einem Kenner der italienischen Küche entwickelt hat.

Nebenan ist sonntagmorgens Blumenmarkt. Thomas ist schon einmal mal um sieben aufgestanden, um sich das alles anzusehen. Heiko und er reden nun immer schneller über das East End. „Wo sind denn noch Bilder von Banksy?“, fragt der Neu-Londoner. Heiko beschreibt es ihm. Später werden wir an einem Graffito des Street-Art-Guerilleros vorbei zurück ins Büro fahren. Banksy ist in England eine Legende, sein Dokumentarfilm „Exit through the Gift Shop“ wurde  gerade für den Oscar nominiert.

Bald reden wir über das Spiel von gestern Abend und über die Nationalelf. „Es macht Riesenfreude, dabei zu sein und ich will’s einfach wieder erleben. Mein letztes Spiel soll nicht mit einer Verletzung enden“, sagt er. Im August hatte er sich in seinem 52. Länderspiel im Freundschaftsspiel gegen Dänemark verletzt. Die Sehne im Hüftbeuger riss. Eine seltene Verletzung. Hitzlsperger hatte schon vorher gespürt, dass da irgendwas war, aber an eine Muskelverletzung geglaubt. „Die Sehne war schon angerissen, es wäre irgendwann passiert“, sagt er. Fast sieben Monate lang musste er von außen zusehen, wie West Ham in der Premier League überhaupt nicht in Gang kam und nun gegen den Abstieg kämpfen muss.

Die letzten anderthalb Jahre waren schlimm für den Fußballer Hitzlsperger. Als es beim VfB Stuttgart in der vergangenen Saison nicht lief, brauchten sie in Schwaben einen Sündenbock und fanden ihn im Mannschaftsführer. Der damalige Teamchef Markus Babbel nahm Hitzlsperger die Kapitänsbinde ab und setzte ihn auf die Bank, um seine schwindende Autorität zu stärken. Ende Januar 2010 wechselte er zu Lazio Rom. „Ich wollte spielen, um bei der WM dabei sein zu können.“ Trainer Davide Ballardini, der ihn holte, wurde nach Hitzlspergers erstem Spiel für Lazio entlassen. Der neue Trainer Edoardo Reja redete nicht mit dem Neuen aus Deutschland, der nur wenige Worte Italienisch konnte. Er machte nur sechs Spiele in der Serie A. Die WM in Südafrika konnte er mangels Spielpraxis vergessen.

Zum Glück kam das Angebot von West Ham. Anders als es der Name nahe legt, hat der Klub im proletarisch geprägten Osten der Stadt seine Heimat. Auf einigen Fanartikeln heißt es „East Londons Pride“, der Stolz Ost-Londons. Einen Tag vor dem Spiel Deutschland gegen England hat er den Vertrag unterschrieben, das Spiel hat er dann bei seinen Eltern in Forstinning bei München im Fernsehen gesehen. „Es ist mir nicht leicht gefallen nur zuschauen zu können, das muss ich zugeben. Ich wäre so gerne in Südafrika mit dabei gewesen.“

Er hat regelmäßig Kontakt zu Arne Friedrich, mit Mario Gomez telefoniert er ab und zu. Und am Tag nach Burnley-Spiel meldet sich auch Joachim Löw bei ihm und gratuliert zum Comeback. Es tut gut zu wissen, dass sie ihn bei der Nationalelf noch auf der Rechnung haben. „Aus der Erfahrung heraus weiß ich, dass der Bundestrainer meine Qualitäten schätzt, dass die Tür nicht zu ist. Dass es immer die Möglichkeit gibt, zurück zu kommen. Aber ich muss einfach noch härter trainieren, noch besser werden, sonst könnte es das gewesen sein“, sagt Hitzlsperger.

Wenn Oliver Bierhoff von der immer wichtiger werdenden Persönlichkeitsentwicklung der Spieler spricht, hat er vermutlich Profis wie Thomas Hitzlsperger im Kopf. Der Mittelfeldspieler hat in elf Jahren Profifußball soviel erlebt, dass es bei anderen für drei Karrieren reichen würde. Mit 18 schon Profi in England, 2007 Deutscher Meister mit Stuttgart,  WM-Dritter 2006 und Vize-Europameister 2008 mit der Nationalelf und Abstiegskampf in der Premier League und in Italien. Die Zeit bei Lazio verbrachte er wie ein Bauarbeiter auf Montage im Hotel, erlebte aber einen Zusammenhalt in der Mannschaft, „wie ich es noch nie zuvor gespürt habe“.  Klischees begegnet Hitzlsperger zunächst mit Misstrauen, seitdem er gelernt hat, wie wenig von Vorurteilen übrig bleibt, wenn man sich sein eigenes Bild machen kann. Die italienische Serie A hält er aus eigener Anschauung für besser als ihren lädierten Ruf. Ein Kollege bei West Ham sagte kürzlich mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: „Italian football is shit!“, Hitzlsperger machte sich trotzdem die Mühe, um ihm seine Sicht der Dinge zu erklären, will allerdings auch nicht als Besserwisser verstanden werden.

Das Leben in London, wo er als West-Ham-Profi manchmal unerkannt in der U-Bahn fährt, gefällt ihm. Die Toleranz der Londoner ist groß, aber es gibt bestimmte Regeln, an die sich alle halten. Höflichkeit ist den Leuten wichtig. Sich einfach immer zu entschuldigen. „Häufiger als es eigentlich notwendig wäre“, sagt derauf einem Bauernhof in der Nähe von München aufgewachsene. Im East End, in den Galerien und neu eröffneten Treffpunkten der Künstlerszene, haben nicht wenige einen ähnlichen Lebenslauf wie Hitzlsperger. Michael, der sein Büro im Nebengebäude hat, stammt aus einem Bergdorf in Vorarlberg, er pendelt jedes Wochenende zu seiner Familie nach Österreich. Seine iPhone-Applikation des Films „Inception“, heißt es, sei bahnbrechend auf diesem Gebiet.

Thomas Hitzlsperger bewundert die Londoner für ihren Mut, auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer wieder von vorne zu beginnen. Wer will, kann da auch eine Parallele zu seiner Situation sehen: Wenn sie nicht spielen, oder nach einer Verletzung wieder fit werden müssen, sind Profis häufig schwer ansprechbar, da bildet auch der ehemalige Stuttgarter keine Ausnahme. Aber er hat versucht, das Beste aus der Situation zu machen: Er hat sich Rom ansehen können und in London nutzt er die freien Tage, um sich vieles anzuschauen. „Kommst du nachher mit auf eine Ausstellungseröffnung einer Fotografenkollegin?“, fragt Heiko. Thomas Hitzlsperger überlegt einen langen Moment, dann sagt er, dass er heute nach dem Spiel von gestern zu müde sei. „Ein andermal bin ich wirklich gerne dabei“, sagt er und geht zu Fuß nach Hause.



Thomas Hitzlsperger wurde am 5. April 1982 geboren und wuchs in Forstinning bei München auf. Im Alter von sieben Jahren wechselte er in die Jugendabteilung des FC Bayern. Im Sommer 2000, Hitzlsperger war gerade 18 geworden, bekam er das Angebot für ein Probetraining bei Aston Villa. Er ging nach Birmingham, bestritt 99 Spiele für Aston Villa in der Premier League, schoss acht Tore und bekam wegen seiner harten Linksschüsse den Spitznamen „Hitz the Hammer“. Bereits 2004 hatte ihn Jürgen Klinsmann in die Nationalelf berufen. Fünfeinhalb Jahre war er Profi beim VfB Stuttgart, mit dem er 2007 Deutscher Meister wurde. Im Januar 2010 wechselte der 1,84 Meter große Mittelfeldspieler zu Lazio Rom, spielte jedoch kaum. Mangels Spielpraxis nahm ihn Joachim Löw nicht mit zur WM nach Südafrika. Bei seinem 52. Länderspiel, dem Testspiel in Dänemark, riss seine Sehne im linken Hüftbeuger. Im Februar 2011 bestritt Thomas Hitzlsperger im FA Cup gegen den Zweitligisten Burnley sein erstes Pflichtspiel für West Ham United. Nach dem Abstieg von West Ham wechselte Hitzlsperger zum VfL Wolfsburg. Zuletzt spielte er in der Saison 2012/13 beim FC Everton in der Premier League. Im September 2013 teilite Thomas Hitzlperger mit, dass er seine Karriere beendet.

 Die Fußball-Nationalmannschaft. Auf der Spur zum Erfolg.

 „Die Fußball-Nationalmannschaft. Auf der Spur zum Erfolg" von Matthias Greulich (Hg.) und Sven Simon. 176 Seiten, 19,90 Euro, Copress Verlag. ISBN 978-3-7679-1048-5

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