TAKTIK
Vergiftete Ballgewinne
Es scheint zu verrückt, den Ball freiwillig dem Gegner zu überlassen. Barcelona und die spanische Nationalelf nutzen dieses taktische Mittel, um die Unordnung auszunutzen, die entsteht, wenn der Gegner von der Ordnung gegen den Ball in die Ordnung mit dem Ball wechselt. Unter Pep Guardiola spielt nun auch der FC Bayern so.Von Roger Repplinger.

 

Philipp Lahm
Das macht Philipp Lahm großartig: Gegenpressing im defensiven Mittelfeld der Nationalelf und des FC Bayern. Foto Pixathlon

 

Vor ein paar Jahren fiel den Analysten des DFB auf, dass die Spieler des FC Barcelona und der spanischen Nationalmannschaft den Ball in bestimmten Bereichen des Spielfelds, in denen sie in Überzahl waren, manchmal so verloren, dass die TV-Kommentaren leichtfertig „leichtfertig“ dazu sagten. Dann holten sie sich den Ball wieder zurück, „postwendend“, wie die Fernsehkommentatoren in ihrer Beamtensprache sagten. So „postwendend“, dass sich aus dem Ballverlust ein Vorteil für Barça ergab. Weil der Gegner, froh über den Ballgewinn, von der Ordnung gegen den Ball in die Ordnung mit dem Ball wechselte, und in diesem Übergang zwangsläufig Unordnung entstand. Die nutzten die Spieler des FC Barcelona und der spanischen Nationalmannschaft aus. Oft reichten wenige Pässe oder ein Dribbling aus, und die Torchance war da.

Auch Bundestrainer Joachim Löw hatte das gesehen, sprach aber nicht öffentlich über dieses Thema. Den Ball freiwillig herzugeben, in einem System, in dem so viel gelaufen wurde, um ihn zu bekommen, und dessen ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet war, ihn so lange wie möglich zu behalten, das klang doch zu verrückt.

Die Bayern machen das inzwischen auch. Den Ball kontrolliert verlieren. Wahrscheinlich liegt das an Pep Guardiola. „Vergiftete Ballgewinne“ könnte man das nennen, oder „absichtlicher Ballverlust“, oder „kalkulierter Ballverlust“.

Um die gegnerische Mannschaft zur Unordnung zu zwingen, ist es notwendig, bei eigenem Ballverlust nicht sofort zum Pressing überzugehen, sondern dem Gegner ein wenig Luft zu geben, in Unordnung zu geraten, und erst bei eigener Überzahl wieder gegen den Ball zu arbeiten, um dann bei Ballgewinn mehr Raum zum schnellen Gegenstoß zu haben. Mehr Raum für sich, weniger Ordnung beim Gegner, darum geht es.

Gegenpressing ist nicht neu. Das wird seit ein paar Jahren von einigen Klub- und Nationalmannschaften praktiziert. Beim FC Barcelona war es eine Möglichkeit, das Spiel nicht nur dann zu kontrollieren, wenn die eigene Mannschaft den Ball hatte, sondern auch dann, wenn ihn der Gegner hatte. Gegenpressing war eine Chance, den Gegner nicht nur beim Spielaufbau zu stören, sondern ihm nur dort die Vorwärtsbewegung zu gestatten, wo er sich hin bewegen durfte, weil er dort keinen Schaden anrichten konnte. Der FC Barcelona war am stärksten, wenn er nach Ballverlusten im Angriff wieder gegen den Ball presste. Der Gegner bekam keine Ruhe. Dann hatte Barça 75 Prozent Ballbesitz, aber 100 Prozent Kontrolle des Spiels. Das gelingt dem FC Barcelona heute nicht mehr.

Möglicherweise spielt Philipp Lahm unter Guardiola im defensiven Mittelfeld der Bayern nicht zuletzt im Hinblick auf Gegenpressing nach „vergifteten Ballverlusten“. Die Bayern pressen körperlicher als Borussia Dortmund und der FC Barcelona. Sie pressen stärker den Mann als den Raum zusammen. Das macht Lahm großartig.

Prinzipiell geht es beim Gegenpressing darum, auf Ballverlust nicht durch Abwinken, auf dem Rasen liegen oder stehen bleiben, schimpfen, lamentieren, senken des Kopfes oder panischem zurück sprinten zu reagieren, allesamt individuelle Reaktionen, sondern den Spieler, der den Ball erobert hat, als Mannschaft unter Druck zu setzen, seine Laufwege zu verstopfen, ihm Passmöglichkeiten zu nehmen, ihn in eine Drucksituation zu bringen mit dem Ziel, ihm den Ball wieder abzunehmen. Um dann in einer besseren Position zu sein als vor dem Ballverlust. Man hat zwar den Ball, aber nicht die Initiative verloren. Man hat zwar den Ball verloren, aber immer noch mehr Einfluss aufs Spiel, als die Mannschaft, die den Ball hat.

Die Frage ist, wer durch den Ballverlust mehr Ordnung verliert. Die Mannschaft, die den Ball verloren, oder die, die ihn erobert hat. Es geht um die Frage des Umgangs mit dem Moment der Instabilität durch den Wechsel des Ball von der einen zur anderen Mannschaft. Gegenpressing ist die Verwandlung der Schwäche der in Folge des Ballverlusts entstehenden Unordnung in eine Stärke, weil sie die Attacke auf den ballführenden Spieler des Gegners einleitet. Während der Spieler, der den Ball erobert hat, und seine Mannschaft die neue Ordnung, die Ordnung des Angriffs, zu etablieren versuchen, wird für den Spieler mit dem Ball der Ball zum Problem, wenn er zum Ziel der Angriffe der Mannschaft, die den Ball verloren hat, erkoren wird. Wenn er nicht weiß, was er mit dem Ball machen soll, und es ist schwer, dies zu wissen, gerade wenn der Ball vergiftet ist, wäre es besser, er hätte ihn nicht.

Im Moment des eigenen Ballverlusts als Mannschaft zum Gegenpressing überzugehen, ist ein Moment des Muts, der Überraschung, des Gefühls fürs Spiel, der Überzeugung und der Ordnung in der Unordnung. Als Ralf Rangnick, damals Trainer des Zweitligisten SSV Ulm 1846, Ende des vergangenen Jahrtausends seinem fragilen Mittelstürmer Dragan Trkulja beizubringen versuchte, dass er die gegnerischen Innenverteidiger zu attackieren hat, um die beim Spielaufbau zu stören, um ihnen den Ball abzujagen, da war das schwer. Trkulja, über 30 Jahre alt, hatte keine Lust, sich mit Innenverteidigern anzulegen. Die traten ihm schon gegen die Knochen, wenn er den Ball hatte. Besser man hielt Abstand, wenn sie den Ball hatten. „Hab ich Angst“, sagte Trkulja, der den Innenverteidigern der Zweiten Liga technisch überlegen war. An Trkulja hing das Pressing des SSV Ulm 1846, wenn der nicht mitmachte, nützte das Pressing der anderen nichts. „Die haben mehr Angst vor dir, wenn du sie angreifst“, sagte Rangnick. Und so war es. Trkuljas Pressing und das der anderen war aus dem Lehrbuch.

Der Aufstieg der Ulmer von der Dritten in die Ersten Liga war nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass der SSV seine Tore nicht heraus spielte, sondern dem Gegner den Ball dort abnahm, wo es dem am meisten weh tat. In der Nähe des gegnerischen Strafraumes. „Dann ist der Weg zum Tor nicht mehr so weit“, sagte Rangnick. „Fehler“ werden nicht nur von denen gemacht, die sie machen, sondern auch von denen, die sie provozieren. Und nun wird der „Fehler“ ein Teil des richtigen Spiels.

Was hilft gegen Gegenpressing, was gegen den „vergifteten Ballgewinn“? Was bleibt, wenn es verboten ist, den Ball auf die Tribüne zu jagen? Der lange Ball. Der lange Ball nach vorne nutzt den Moment der Ruhe, den die Mannschaft, die den Ball verloren hat, der anderen einräumt, um in Unordnung zu geraten. Mit dem langen Ball wird das Spielgerät aus der Gefahrenzone entfernt, die Chance, dass er „vorne“ der eigenen Mannschaft erhalten bleibt, ist fifty-fifty. So lange der Ball über die Köpfe der Mittelfeldspieler hinweg fliegt, kann die Mannschaft, die ihn gerade erobert hat, sich dem Pressing entziehen, ihre Unordnung in Ordnung verwandeln. Dort, wo der Ball landet, entsteht vielleicht ein Lauf- oder Kopfballduell. Also eine körperliche Situation, keine der Ordnung, wie beim Gegenpressing. Eine Chance für Mannschaften, die bis auf die körperlichen Aspekte des Spiels der anderen unterlegen sind.

Der weniger intelligente Fußball braucht in dieser Phase der Entwicklung des Spiels, in der vermeintliche Vorteile wie Ballgewinne objektive Nachteile sind, findige Lösungen, gerade wenn der intelligente Fußball, wie der der Bayern, nun auch noch körperlich wird.

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