INTERVIEW teil 1
Jürgen Kohler: „Die heutigen Innenverteidiger haben kein gutes Abwehrverhalten“
Jahrzehntelang galt er als Prototyp des deutschen Manndeckers: Jürgen Kohler wurde 1990 Weltmeister. Mittlerweile ist der gebürtige Mannheimer Trainer des Oberligisten EGC Wirges. Im Interview mit Henning Klefisch sagt er, was er von seinen Nachfolgern hält.


Jürgen KohlerWeltmeister 1990: Jürgen Kohler, 49. Von 1986 bis 1998 bestritt er 105 Länderspiele. Foto Pixathlon

 

Herr Kohler, Sie wurden 1990 in Italien Weltmeister. Was hat sich seitdem auf der Position des Innenverteidigers verändert?
Kohler: Heutzutage musst du komplett sein. Du brauchst eine gute Technik und ein gutes Aufbauspiel. Die heutigen Innenverteidiger haben nach meiner Meinung kein gutes Abwehrverhalten. Es wird viel mehr Wert auf andere Dinge gelegt. Abwehr heißt ja auch wehren. Das machen gegenwärtig viele Verteidiger nicht gut, weil sie es auch nicht mehr lernen. Dies wird auch nicht richtig geschult, weil ein ganz anderes Verhalten gebraucht wird. Wenn einer das schafft, diese neuen Attribute, die man braucht, das sind gute Spieleröffnung, gute Technik, gute Geschwindigkeit, Spiel lesen, und wenn du schaffst, diese Werte als Abwehrspieler zu beherrschen, macht dies für mich einen Top-Abwehrspieler aus.
 
Haben wir in Deutschland derzeit einen Mangel an guten Außenverteidigern und im Angriff?
Kohler: Eine ganz große Vakanz haben wir sicherlich auf der Mittelstürmerposition, wo wir in den letzten Jahren keinen großen Wert darauf gelegt haben. Auch diese Aussagen mit der verkappten neun, diesen modischen, aus meiner Sicht Firlefanz, kann ich nicht nachvollziehen. Es gibt Mannschaften, die können das spielen, wenn sie die Spieler dazu haben. Ich glaube, dass es wieder an der Zeit ist, dass man mit einem richtigen Mittelstürmer spielt, der ein zentraler Fixpunkt ist oder auch mit zwei Stürmern. Ob das Spiel dann besser oder schlechter ist, mag ich nicht zu beurteilen. Diese verkappte neun ist durch den FC Barcelona entstanden. Wenn man es gut kann, sieht es sehr gut aus, weil Ballbesitz nichts Anderes als Ausruhen bedeutet. Die andere Mannschaft muss dem Ball hinterherlaufen. Bei Ballbesitz sollte man in den entscheidenden Momenten die Lücken erkennen, um da reinzugehen. Das ist eine Spielform, die machbar ist. Aus meiner Sicht wird dies irgendwann auch langweilig.

 

Jürgen Kohler gegen Marco van Basten
Beim EM-Halbfinale 1988 im Hamburger Volksparkstadion: Jürgen Kohler gegen Marco van Basten, der den Siegtreffer für die Niederländer erzielte. Foto Pixathlon

 

Es gibt Experten in Fußball-Deutschland, die darüber diskutieren, warum Stefan Kießling nicht von Jogi Löw nominiert wird. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Kohler: Es gab ja Gründe, warum er nicht mitgenommen wurde. Die hat der Jogi auch dargelegt. Es ist immer die Entscheidung des Trainers. Ich sehe den Stefan Kießling als einen guten Stürmer. Wenn man es ganz ehrlich betrachtet, hat er international den ganz großen Durchbruch auch noch nicht geschafft. Ich werte auch Spieler, nicht nur, weil Sie Nationalspieler sind, wie sie sich international verkaufen. Da hat er schon gute Spiele gemacht, aber im Gesamtpaket hat er mehrere schwache Spiele bestritten. Dies ist meine persönliche Meinung.
 
Wer könnte die Lücke füllen?
Kohler: Man muss den Personen nun auch die Zeit geben, um neue Spieler auch wieder zu kreieren und auch auszubilden. Es wird aktuell auf verschiedenen Trainertagungen gesagt, dass man den wuchtigen, großen Stürmer á la Horst Hrubesch gerne wieder sehen würde. Bei Werder Bremen gibt es mit David Selke einen U19-Europameister im Angriff mit einer schönen Statur. Da könnte man sich das durchaus vorstellen. Manchmal ist nicht die Technik entscheidend. Wenn du richtig stehst und die Nüsse machst, ist alles in Ordnung.
 
Eine Frage zu Ihrem ehemaligen Mitspieler Lothar Matthäus. Er hat als Trainer in der Bundesliga bislang keine Chance bekommen. Als Fußballer war er Weltklasse. War sein Privatleben der Grund, warum er später nicht den gewünschten Erfolg gehabt hat?
Kohler: Man könnte natürlich den Eindruck gewinnen, dass das ganz stark mit hineinspielt. Für mich spielt das keine Rolle, denn jeder ist seines Glückes Schmied. Ich glaube, dass der Lothar sehr viel Fußball-Sachverstand hat und er es durchaus verdient hätte, eine Mannschaft in der Bundesliga zu trainieren. Ich glaube, dass es für ihn verdammt schwer wird, in der Bundesliga Fuß zu fassen.

Sie sind seit 2013 Trainer beim EGC Wirges, einem Verein aus der Oberliga Südwest. Was muss ein Verein haben, damit Sie dort arbeiten?
Kohler: Der Verein muss eine gute Struktur haben. Der Verein muss mit den Mitteln arbeiten, dass man mehr auf die Jugend setzt und nicht den großen Geldbeutel herausholt. In Wirges hat mir gefallen, dass die Leute dort sehr ehrlich und offen waren. Da ich selbst so bin, hat es sehr gut gepasst. Die Menschen können mit meiner Arbeit sehr gut umgehen. Ich finde es bemerkenswert, wenn man sich in die Augen schauen und sagen kann: Das ist so und so. Wenn das alles passt, ist das eine sehr gute Ausgangslage, um erfolgreich arbeiten zu können.

Sie lassen interessanterweise relativ offensiv spielen. In einem 4-2-1-3-System. Anders als viele Trainer, die früher Verteidiger waren, und ihr Schwergewicht auf die Defensive legen.
Kohler: Das ist gar nicht so abwegig, denn wenn sie offensiv spielen, sind sie auch meistens weit weg von dem eigenen Tor. Also kann da auch nicht soviel passieren. Das ist der Hintergrund. Es könnte auch Spiele geben, wo wir etwas tiefer stehen, weil wir auch sehr schnelle Spieler haben, um die Räume auch besser nutzen zu können. Wenn wir auf eine Mannschaft treffen, die technisch nicht so stark ist, die selbst auf Konter spielen will, muss ich eine andere Variante wählen. Es ist auch ab und zu dem Gegner geschuldet. Insgesamt wollen wir unser Spiel durchdrücken. Das ist uns bisher auch immer ganz gut gelungen.

Die Devise von Huub Stevens, dass die Null stehen muss, scheint bei Ihnen nicht so im Vordergrund zu sein?
Kohler: „Doch, denn mit einer guten Defensivarbeit, die meistens vorne anfängt, besitzen wir ein gutes Gefühl für die Stabilität der Mannschaft . In gewissen Situationen, wo wir tief hintendrin stehen, haben wir auch die weiten Wege zum Tor. Wenn wir ganz clever sind, können wir das Ergebnis so stellen, dass es für den Gegner ganz schwer werden wird, es wieder aufzuholen.

Was haben Sie neben dem Job in Wirges noch für Projekte?
Kohler: Ich habe selbst eine eigene Immobilienfirma, eine eigene Hausverwaltung, bin auch selbst noch im Fußballbereich aktiv. Ich habe eigene Konzepte geschrieben für ausländische Vereine. Ich schaue mich auch in verschiedenen Ligen um, um einen Überblick und ein gewisses Augenmaß zu behalten. Das ist ein Job, der mich voll und ganz ausfüllt. Dazu habe ich noch drei Kinder. Der eine Sohn ist Torwart. Den habe ich aber ausgebremst.Er ist ein sehr guter Schüler. Mein zweiter Sohn ist ebenfalls sehr gut in der Schule. Für mich geht es jetzt nicht darum, dass sie eine erfolgreiche Sportlerkarriere hinlegen. Heutzutage ist es ganz entscheidend, dass man eine vernünftige schulische Ausbildung hat und dann auch durch diese Ausbildung seinen eigenen Weg finden sollte. Dabei werde ich meine beiden Söhne und natürlich auch später meine Tochter tatkräftig unterstützen.
 
Wäre für Sie auf Dauer auch eine Berater-oder Scout-Tätigkeit möglich?
Beratertätigkeit mache ich schon. Dem einen oder anderem Verein habe ich einige konzeptionelle Dinge an die Hand gegeben. Ich habe mit dem einen oder anderen Klub auch schon Businesspläne gemacht. Alles, was ich gelernt habe, kann ich im Schlaf. Ich muss da nicht lange darüber nachdenken. In der Vergangenheit war es auch so, dass der eine oder andere bei mir angerufen hatte, der einen Engpass hatte und ich ihm dann sehr gute Tipps gegeben habe. Der Verein hat unentgeltlich die Spieler geholt, um sie später für teures Geld zu verkaufen.
 
Sie waren auch eine Zeitlang Profi beim FC Bayern München. Wie ist der Kontakt zu Uli Hoeneß?
Kohler: Bevor er seine Haftstrafe angetreten hat, habe ich mit ihm telefoniert. Der Uli ist ein ungewöhnlicher Mensch, der sehr viele soziale und gute Dinge für den deutschen Fußball getan hat. Er weiß, dass er da einen Fehler begangen hat. Dennoch ist er nach wie vor ein toller Mensch und einer der besten Manager, die es jemals wahrscheinlich auf dem Erdball gegeben hat. Bayern München ist Uli Hoeneß. Da müssen andere Vereine viel, viel arbeiten, um diesen Status zu erreichen.
 
Droht aufgrund der Dominanz des FC Bayern München Langeweile in den nächsten Jahren im deutschen Fußball?
Kohler: Ich hoffe nicht. Die Schere klafft immer weiter auseinander. Wenn ich zum Beispiel sehe, was die Bayern an Umsatz im vergangenen Jahr gemacht haben. Das wird ja auch nicht weniger werden, weil die Bayern immer wieder gute Spieler verpflichten können. Es ist einfach ein toller Klub. Auch Borussia Dortmund hat sicherlich seine sportlichen Reize, wie auch andere Vereine in der Bundesliga. Es wird entscheidend sein, dass man die betriebswirtschaftlichen Verhältnisse nicht so weit auseinander kommen lässt, weil es dann ganz schwierig wird, den FC Bayern wieder einzufangen.
 
Ist auch RB Leipzig auf Dauer ein Konkurrent?
Kohler: RB Leipzig sehe ich zeitnah als ganz starke Konkurrenz an, weil der Verein auch gut strukturiert ist und gute handelnde Personen an der Hand hat. Das fängt im Nachwuchsbereich an. Die sind dort sehr gut aufgestellt. Es ist ein gutes Modell. Deshalb sind sie auf die Jahre gesehen ein Konkurrent, der nicht nur sportlich, sondern auch betriebswirtschaftlich ganz heiß werden kann für den FC Bayern.
 
Viele traditionsbewusste Fußball-Fans kritisieren dieses Modell von RBL scharf. Wie sehen Sie das. Verstehen Sie diese Kritik?
Kohler: Die Leute haben keine Ahnung. Ich finde es gut, wenn Vereine über Sponsoring Geld erhalten und dann auch an die Mannschaft weitergeben können. Dadurch kommen auch viele Zuschauer in die Stadien. Es wird auch Zeit, dass auch einmal wieder ein so genannter „Ostklub“ irgendwann erstklassig ist, um auch einen gewissen Ausgleich und eine gewisse Wertigkeit zu geben für den allgemeinen Osten. Das wäre ganz gut und schön, wenn es so kommen würde.

Klicken Sie hier, um Teil 2 des Interviews mit Jürgen Kohler zu lesen: „In Italien gereift“

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