INTERVIEW
Statistik im Fußball: „Die überwiegende Zahl der Daten sind nutzlos“
Professor Martin Lames von der Technischen Universität München hat untersucht, dass in der Bundesliga fast jedes zweite Tor durch Zufall fällt, gleichzeitig widerlegt er die Mär, dass mehr Torchancen gleich mehr Tore bedeuteten. Ein Auszug aus dem Buch Fußball-Taktik: Die Anatomie des modernen Spiels“ von Elmar Neveling und Matthias Greulich

 

Ball im NetzOb in der Bundesliga oder wie auf dem Foto in der Premier League im St. James Park in Newcastle: Ob der Ball im Netz landet hängt mit 47 Prozent stärker vom Zufall ab als man annehmen würde. Foto Pixathlon

 

 

Greulich, Matthias; Neveling, Elmar Fußball-Taktik
Matthias Greulich und Elmar Neveling: „Fußball-Taktik: Die Anatomie des modernen Spiels“,
2. aktualisierte Neuauflage 2020, 224 Seiten, Copress Sport, ISBN: 978-3-7679-1262-5, 19,90 Euro

 

Herr Professor Lames, worin liegt Ihr Forschungsschwerpunkt?
Unser großes Thema ist die Spielanalyse in ihren verschiedenen Facetten. Dabei geht es uns mehr um taktische als um konditionelle Leistungsvoraussetzungen. Wir interessieren uns besonders für die Genauigkeit der Messung von Aktions- und Positionsdaten. Diese Werte werden von Konsumenten und Journalisten oft einfach so hingenommen. Wenn zum Beispiel ein ausgewechselter Spieler während der Partie genau 8.232 Meter gelaufen sein soll, dann fragen wir: Stimmt das eigentlich? Wie viel Vertrauen kann man in solche Werte haben? Letztlich interessiert uns natürlich auch, was sich mit diesen Werten anfangen lässt, welchen Nutzen sie für die Spielanalyse bringen.

Vor fünf Jahren haben Sie und ihr Team eine Studie durchgeführt, wonach im Schnitt von fünf Toren zwei dem Zufall geschuldet waren.
Genau. Wir führen diese Studie seit 1994 in regelmäßigen Abständen durch und die Zufallsquote liegt immer zwischen 40 und 50 Prozent. Hintergedanke war, den Einfluss des Zufalls bei einem Torerfolg zu messen. Dr. Roland Loy (Dr. Roland Loy ist ein bekannter Sportwissenschaftler, der die vermeintlichen Gesetze des Fußballs mit statistischen Methoden hinterfragt. Er ist Autor unter anderem der Bücher „Taktik und Analyse im Fußball“ oder „Das Lexikon der Fußballirrtümer“, in denen er den Fußball wissenschaftlich untersucht hat. Als persönlicher Berater von Franz Beckenbauer hat Loy ihn während der Fußball-WM 1990, bei Olympique Marseille sowie beim FC Bayern München mit seiner Datenerhebung unterstützt) behauptet, dass Erfolg im Fußball kaum begründbar sei und bei ähnlichen Voraussetzungen einer Lotterie gleiche. Soweit würde ich nicht gehen. Wir haben uns bei der Forschung auf die sichere Seite begeben, indem wir das Zustandekommen von Toren untersucht haben, weil sie klar definierte Ereignisse sind. Dann haben wir uns gefragt, bei welchen Merkmalen ein Tor nicht planmäßig entsteht.

Welche Merkmale sind das?
Es sind sechs Merkmale: Wenn der Ball abgefälscht wurde, wenn der Torwart eine starke Ballberührung hatte, er den Ball also vermutlich hätte halten können, oder wenn der Ball von Pfosten oder Latte ins Tor sprang. Auch Tore aus sehr weiter Entfernung gehören dazu oder Treffer, die nach einem Abpraller zustande kamen. Das häufigste Merkmal aber ist, dass die Abwehr zuvor einen Ballkontakt hatte, sei es bei einem Eigentor, oder wenn der Ball dem Torschützen oder Vorlagengeber von der gegnerischen Abwehr unbeabsichtigt aufgelegt wurde. Dann lässt sich nicht von einem geplanten Zustandekommen eines Tores sprechen, sondern nur von einem zufälligen.

Und wann handelt es sich um ein glückliches Tor? Wie lassen sich Zufall und Glück im Fußball voneinander abgrenzen?
Das ist nicht so schwierig: Ein Zufallstor nach unserer Definition ist ein Tor, bei dem eine der eben geschilderten Zufallsvariablen im Spiel war, die für ein nicht geplantes oder nicht planbares Zustandekommen eines Tores stehen. Unter einem glücklichen Tor verstehe ich ein Tor, das zwar so geplant war, aber ein so hohes Maß an Leistungsniveau voraussetzte, dass es unwahrscheinlich war. Ein Beispiel ist – leider oder zum Glück – das Tor von Mario Götze im WM-Finale 2014 gegen Argentinien: André Schürrle setzt sich gegen zwei Gegner durch, der argentinische Verteidiger Martín Demichelis begeht einen Stellungsfehler, und Götze nimmt den äußerst schwierigen Flankenball an und verwandelt ihn mit einer einzigen Bewegung!

Wenn so viele Tore allein dem Zufall geschuldet sein sollen, spreche ich den Spielern dann nicht ihre fußballerische Qualität ab?
Nein, der Zufall relativiert nur die Planbarkeit von Toren. Unsere grundlegende Theorie besteht darin, dass Fußball als komplexes dynamisches System zu betrachten ist. Dabei treten 22 Spieler zueinander in Wechselwirkung, aus denen sich verschiedene Spielsituationen ergeben. Diese Wechselwirkungen sind nicht vorhersehbar, aber sie entspringen im Prinzip aus dem Aufeinandertreffen von taktischen Plänen, die beide Mannschaften versuchen umzusetzen. Die eine Mannschaft beabsichtigt, die Pläne der anderen zu durchkreuzen, weshalb der Ausgang der einzelnen Spielsituationen offen ist. Es entstehen Interaktionen; der eine Spieler reagiert auf das Verhalten des anderen. Das daraus „emergierende“, sichtbare Verhalten ist aber noch kein Zufallsprodukt, sondern spiegelt vielmehr die Natur des Spiels wieder. Weiter ist typisch für den Fußball, dass die Ballkontrolle aufgegeben wird, zum Beispiel, wenn eine Flanke oder ein Eckball in den Strafraum geschlagen wird. Die Kontrolle wird dann in der Hoffnung auf eine Torchance ganz bewusst abgegeben. Insofern ist das noch geplantes Handeln und nach unserem Verständnis das Gegenteil von Zufall. Deshalb gehe ich auch nicht so weit wie Roland Loy mit seiner Aussage.

Von Pep Guardiola heißt es, dass er nach Perfektion im Spiel strebe. Schließen sich Perfektion und Zufall nicht gegenseitig aus?
So ist es! Mich interessiert sehr, wie klar den Entscheidungsträgern im Fußball dieser Punkt tatsächlich ist. Natürlich sollen die taktischen Pläne möglichst perfekt sein und auch auf alternative Spielverläufe gut vorbereiten, aber die entscheidenden Spielsituationen sind letztlich vom Zufall bestimmt. Ob ein Tor fällt oder nicht, liegt häufig nicht in der Kontrolle der Spieler. Die naheliegende Reaktion ist, sich so viele Torchancen wie möglich zu erarbeiten, um darauf zu hoffen, dass die eine oder andere Chance zum Torerfolg führt. Spieler und Trainer versuchen in ihrem Selbstverständnis, Kontrolle herzustellen. Nur lässt sich empirisch nicht belegen, dass eine vermehrte Kontrolle auch zu einer höheren Erfolgswahrscheinlichkeit führt.

Es stimmt also nicht, dass mehr Torchancen gleich mehr Tore bedeuten?
Dahinter lässt sich zumindest ein Fragezeichen setzen. Wir konnten bei unserer Analyse nur einen sehr schwachen Zusammenhang feststellen. Einige Mannschaften erzielten mit einer Fülle von Torchancen nur wenige Treffer, umgekehrt waren andere Teams trotz weniger Möglichkeiten oft erfolgreich. Die Menge der Tore ist aus der Anzahl der Torschüsse nicht prognostizierbar, genauso wenig das Ergebnis einer einzelnen Torchance. Das ist auch eine alltägliche Beobachtung, die zur Dramatik und Faszination von Fußball beiträgt, dass sich eine Mannschaft trotz nur geringer Spielanteile und Torchancen dennoch gegen einen vermeintlich überlegenen Gegner durchsetzt. Dann wird oft von einer „unverdienten Niederlage“ gesprochen, eine Deutung, die genau auf diesen nicht-linearen Zusammenhang zwischen Torchancen und Toren zurückgeht.

Deutet der jahrzehntelange Erfolg von Bayern München nicht darauf hin, dass sich durch hochqualifizierte Spieler der Einfluss des Zufalls im Fußball verringern lässt?
Wenn die Bayern es schaffen, den Gegner durch eine dominante Spielweise komplett vom eigenen Tor wegzuhalten, dann haben sie natürlich viel erreicht und der Zufallsfaktor zumindest bei Gegentoren im Zaum gehalten. Doch selbst bei den auf Ballkontrolle bedachten Bayern lässt sich nicht alles planen. Trotz gleicher Spielweise schießen sie gegen Augsburg vier, gegen Freiburg aber „nur“ zwei Tore. Eben auch aufgrund des Zufalls. Der Vorteil der Bayern besteht aber darin, dass sie eine große Flexibilität im taktischen Handeln eingeführt haben, die sie schwer ausrechenbar macht. Dieser Zugewinn hebt sich auch von früheren Erfolgs-Mannschaften des FC Bayern ab. Ein wesentlicher Fortschritt.

Unterscheidet sich der Fußball in seinem zufälligen Zustandekommen von Toren von anderen Sportarten?
Ja, in diesem extremen Zuschnitt schon. Das liegt an mehreren Faktoren. Zunächst fallen beim Fußball in der Regel nur sehr wenige Tore, der Schnitt liegt unter drei pro Spiel. Das heißt, der Spielausgang hängt stark von singulären Ereignissen ab. Beim Handball oder Basketball gibt es wesentlich mehr solcher „spielstandsverändernden Ereignisse“, also Tore. Damit geht auch die Erfolgsrate von Spielzügen einher, die im Handball zwischen 40 und 45 Prozent liegt. Das heißt, wenn eine Mannschaft den Ball in ihren Reihen hat, schließt sie bis zu 45 Prozent aller Angriffe erfolgreich ab. Das ist mit dem Fußball nicht vergleichbar, dort liegt die Quote wesentlich niedriger.

Worin liegt ein weiterer Unterschied?
Im Fußball haben wir das Phänomen der geringeren Ballkontrolle. Überspitzt könnte man sagen, dass der Fußballer nie perfekte Ballkontrolle besitzt, sondern den Ball lediglich durch geringere oder stärkere Impulse zu steuern versucht. Im Handball existiert eine ganz andere Form der Ballkontrolle. Der Handballer hat den Ball permanent im Körperkontakt, hält ihn fest in der Hand, während der Fußball durch Impulse mit dem Fuß weitergespielt wird.

Wobei die Bayern auch an der Ballkontrolle arbeiten, indem sie auf Ballbesitzfußball setzen, der zwar keine langen Kontakte vorsieht, aber den Ball für längere Zeit in den eigenen Reihen hält.
Das scheint mir eine sehr erfolgreiche Taktik zu sein. Der FC Barcelona und Spaniens Nationalmannschaft haben vorgemacht, wie es geht. Der Handlungsplan gibt hier eine maximale Ballkontrolle vor, viel mehr, als sonst im Fußball üblich.

Von Matthias Sammer ist der Satz überliefert: „Wir wollen den Zufall im Fußball minimieren.“ Ein realistischer Ansatz?
Wir müssen unterscheiden zwischen dem laufenden Spiel, in dem es hin und her geht, und den kritischen Übergängen, die den Spielstand verändern. Diese Zustandsübergänge zeichnen sich durch ganz eigene Charakteristika aus. Beim Verhältnis zwischen Torchancen und erzielten Toren lässt sich der Zufall nach unseren Erkenntnissen nicht beeinflussen – bei der Ballkontrolle hingegen lässt er sich schon minimieren. Schlage ich den Ball einfach nach vorne und hoffe, dass die Stürmer schon irgendwie an den Ball kommen, dann ist das ein zufallsbasierter Spielaufbau. Wird der Ball jedoch durch Kombinationen kontrolliert nach vorne gebracht, lässt sich der Zufall etwas einschränken.

Sie sagten, dass an 40 bis 50 Prozent der Tore der Zufall beteiligt ist. Gilt das nur für die Bundesliga oder auch für andere Ligen?
Für die Saison 2011/12 haben wir die Tore der Bundesliga mit denen aus der englischen Premier League verglichen. Die Bedeutung des Zufalls lag in beiden Ligen bei ungefähr 47 Prozent, mit einer Abweichung von gerade mal 0,3 Prozent. Bei unseren sechs Zufallsmerkmalen gab nur zwei signifikante Unterschiede: In Deutschland hatte der Torwart häufiger die Finger am Ball, während in England mehr Tore durch Fernschüsse ab der Strafraumgrenze fielen. Diese Punkte stimmen überein mit den Vorstellungen, die man von beiden Ligen hat. Angesichts von etwa 1.900 analysierten Toren lässt sich der Einfluss des Zufalls nicht abstreiten, es scheint sich um so etwas wie eine Naturkonstante im Fußball zu handeln.

 

 Professor Dr. Martin LamesProfessor Dr. Martin Lames



Prof. Dr. Martin Lames ist Inhaber des Lehrstuhls für Trainingswissenschaft und Sportinformatik an der Technischen Universität München. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten zählen die Sportspielforschung, Leistungsdiagnostik, informatische und mathematische Modellbildung im Sport sowie Talentforschung. 

 

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