INTERVIEW
Ballbesitz oder Chaosfußball
DFB-Analyst Christofer Clemens über den Fußball von morgen. Zweiter Teil des Interviews von Ralf Lorenzen und Jörg Marwedel aus dem Buch „Die Zukunft des Fußballs“.

 

Christofer ClemensBei der Analyse: Christofer Clemens. Fotos KJM Buchverlag Andreas Fromm

 

Herrr Clemens, wird das, was Löw, Guardiola und Tuchel vorausdenken, Jahre späer umgesetzt?
Christofer Clemens: Ich glaube, da ist extrem viel Kreativität im Thinktank. Pep Guardiola hat das durchaus befeuert und war aus meiner Sicht Gold wert für die Entwicklung im deutschen Fußball. Auch Tuchel ist jemand, der innovativ arbeitet. Das gilt aber auch für viele andere Trainer.

Denkt Löw nur an das nächste Turnier oder auch an die Förderung der Zwölfjährigen?
Christofer Clemens: Seine Kernaufgabe ist die A-Nationalmannschaft. Aber es gibt natürlich durch die Entwicklung des Spiels immer neuen Input. Da haben wir als Analysten eine wichtige Rolle. Wir hören genau zu und versuchen, die Entwicklung zu visualisieren, um zu sagen: Ah, da geht die Reise hin. Wir müssen dies auch für unsere Jugendtrainer anschaulich machen. Warum braucht man vielleicht wieder den Stürmer, der die Bälle mit dem Kopf verwertet? Brauchen wir ihn überhaupt und wenn ja, wie muss seine kognitive Weiterentwicklung sein?
 
Werden die Spieler heute zu früh in die Leistungszentren geholt?
Christofer Clemens: Ich bin fest davon überzeugt, dass die Ausbildung im Kinderbereich noch im alten Verein stattfinden sollte. Jugendliche zum Beispiel aus dem Hamburger Süden in den Norden zu bringen, ist ja Wahnsinn. Wenn aber zehn Kinder, die südlich des Elbtunnels in verschiedenen Vereinen trainieren, zweimal in der Woche dort von einem Trainer der Profivereine trainiert werden und die das Know-how an die Vereine weitergeben, ist das sinnvoll. So ein Konzept sieht vor, dass kein Spieler einer U8 und U9 in einem Leistungszentrum trainiert, sondern vielleicht erst ab der U11 oder noch später.
 
Es gibt auch Talente, die gehen dem Leistungssport relativ spät verloren.
Christofer Clemens: Dieses Drop-out-Phänomen hat leider zugenommen. Es gab Spieler, die beim FC Chelsea für sechs Millionen Euro als 15-Jährige verpflichtet wurden, um im Leistungszentrum zu lernen, und inzwischen keinen Fußball mehr spielen. So etwas habe ich leider auch schon erlebt.
 
Können solche Jungs nicht damit umgehen, dass sie nicht weitergekommen sind?
Christofer Clemens: Vielleicht. Aber ich glaube auch, dass ein Jugendlicher nach dem Leis- tungszentrum so durchstrukturiert ist und mit 17 Jahren Erfahrungen in der Welt der Profis gesammelt hat wie früher ein 23-Jähriger. Im Grunde genommen fangen die mit fünfzehn, sechzehn an, Profifußball zu leben, mit allem, was dazugehört – Berater, Marketing, Werbung. Die Schweizer machen etwas sehr Spannendes. Sie lassen die besten Jugend- auswahlspieler in jungen Jahren in ihrem Verein. Die Prognose ist: Es wird eventuell schwierig, dass die Auswahlmannschaften mit 15, 16 oder 17 Jahren international große Erfolge feiern. Aber die Hoffnung ist, dass die Spieler im Übergangsbereich 20, 21, 22 Jahre eine große Lust auf Wei- terentwicklung im Fußball haben und dort erst ihr Potenzial ausschöpfen.
 
Müsste man nicht auch bei uns wieder Druck herausnehmen? Oder geht das nicht beim heutigen Hochgeschwindigkeitsfußball?
Christofer Clemens: Man kann ja die Inhalte so gestalten, dass man mit einer gewissen Ent schleunigung herangeht. Die entscheidende Frage bleibt: Ist so eine Gelassenheit deutsch? Die Nationalmannschaft ist das Spiegelbild der Kultur eines Landes. Wenn das Leben grundsätzlich hektischer wird und die Feedback-Zeiten immer kürzer werden, bleibt das ein Thema – vor allem auch im Sport.
 
Was wird sich im System aus Leistungszentren, Stützpunkten und Auswahlmannschaften in den nächsten Jahren ändern?
Christofer Clemens: Der Fußball wird noch mehr individualisiert werden, und die Trainer stäbe werden weiter professionalisiert. Es gibt nicht nur Offensivtrainer und Defensivtrainer. Ich glaube, es wird in Zukunft auch Kognitionstrainer geben; im Wahrnehmungstraining schlummert noch sehr viel Potenzial. Ein Studienkollege von mir aus Norwegen hat eine Studie über das Wahrnehmungsverhalten der besten Fußballer in Europa gemacht. Darunter waren auch deutsche Spieler. Der eine davon schaute sich in der Minute drei Mal um, der andere 26 Mal.
 
Was soll man daraus schließen?
Christofer Clemens: Dass wir uns nicht wundern, warum der eine den Ball tendenziell eher zurückspielt und der andere, wenn er kann, den Ball nach vorne in den freien Raum mitnimmt. Der eine arbeitet nach Recherche mit einem Visualtrainer, sprich: mit einem Life-Kinetik- und einem Kognitionstrainer, der andere ohne diese Unterstützung. Dieses Spezialistentum wird ein wichtiger Baustein für die nächste Spielergeneration. Irgendwann werden wir Trainerstäbe von zehn bis zwölf Leuten haben.

Horst Hrubesch sagte, das Fördersystem sei gut, habe aber den Nachteil durch die frühe Leistungsorientierung und Elitebildung, dass ein Verlust an Sozialkompetenz zu beklagen sei.
Christofer Clemens: Für den Cheftrainer ist Sozialkompetenz vermutlich das wichtigste Merkmal. Ausreichend Fachwissen besitzen alle, welche die Fußball-Lehrerausbildung durchlaufen haben. Ich glaube manchmal fast, dass viele Trainer sogar zu viel wissen und alles gegenüber den Jugendlichen loswerden wollen. Das kann auch zu überforderung und Verkrampfung bei Jugendlichen führen.
 
Haben viele Trainer zu wenig Ahnung davon, wie Gruppen funktionieren?
Christofer Clemens: Der ganze Komplex der sozialen Kompetenz ist sehr schwierig abzubilden. Die Trainer sind ja auch im Mikrokosmos Profifußball groß gewor- den. Künftig wird ein Trainer ein Supervisor und weniger ein Stratege sein. Da muss er eine riesige soziale Kompetenz und Gruppenführungsfähigkeit besitzen und zehn bis 15 Spezialisten steuern.
 
Vielen Teams wurde einige Zeit das 4-3-2-1-System beigebracht, dann wurde wieder mit zwei Stürmern gespielt. Verliert die Systemfrage an Bedeutung?
Christofer Clemens: Total. Mir sträuben sich immer die Haare, wenn ein Spielbeobachter berichtet, die spielen 4-3-3. Und wie spielen sie denn, frage ich. Was ist die Spielidee? Ja, 4-3-3, kommt wieder die Antwort. Stürmer in der Mitte und zwei Flügel. 4-3-3 ist nur eine Zahlenkombination. Und die ist spätestens nach dem Anstoß obsolet.
 
Was wäre bei Ihnen das erste Kriterium?
Christofer Clemens: Der erste Gedanke ist, ob eine Mannschaft Ballbesitzfußball oder Chaosfußball spielt. Bayern München steht für das Erste, und für das Zweite gibt es in jeder Liga genug Beispiele. Die Idee beim Ballbesitzfußball à la Guardiola ist, die Kontrolle über das Spiel zu behalten, eben mit Ballbesitz. Ein Indikator ist die Raumbesetzung, ein anderer, wie gepasst wird. Oder will ich, wie beim Chaosfußball, dafür sorgen, dass ich ständig Umschaltsituationen kreiere? Eine vermeintlich schwähere Mannschaft hat dann immer eine 50-prozentige Chance, den Ball zu kriegen.

Wo sehen Sie im Moment interessante Entwicklungen?
Christofer Clemens: Bei der letzten Copa America war es taktisch extrem innovativ. Südamerika hat sich in vielen Ländern fußballerisch extrem zurückentwickelt. Aber das Team von Chile war sehr beeindruckend. Da ist dieser unbedingte Drang, jedes persöliche Duell anzunehmen und gewinnen zu wollen. Jeder Spieler sucht das 1:1 in Defensive und Offensive. Zudem hat Chile ein hohes Verständnis für Raum und Überzahl im letzten Drittel. Die haben keine Angst, mit zwei Leuten gegen vier Gegner von hinten aufzubauen.


Buch: "Die Zukunft des Fußballs" Ralf Lorenzen und Jörg Marwedel:„Die Zukunft des Fußballs. Woher die nächsten Weltmeister kommen – Recherchen im System Jugendfußball“,  KJM Buchverlag, ISBN 978-3-945465-16-5, 144 Seiten, 15 Euro


Klicken Sie hier, um Teil eins des Interviews mit Christofer Clemens zu lesen: Raum, Zeit, Gegnerdruck.

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