INTERVIEW
„Unser Zauberer wurde abgesetzt“
Verglichen mit ihm sind Julian Nagelsmann und Hannes Wolf alte Säcke: Tim Jost war mit 23 Trainer der Toto Africans. Sein Team kämpfte in der Premier League in Tansania gegen den Abstieg. Interview Matthias Greulich.

 

Tim Jost an der Seitenlinie

Ein Mzungu in Tansania: Tim Jost an der Seitenlinie bei einem Spiel der Toto Africans

 
 
RUND: Herr Jost, mit Ihrer Mannschaft, den Toto Africans, stehen Sie im Abstiegskampf der tansanischen Premier League. Was erleben Sie als Cheftrainer?
Tim Jost: Ein Beispiel: Ich ging zu den Spielern, um die Aufstellung und taktische Ausrichtung vorzugeben. Da waren zwei Männer, die kannte ich nicht. Ich sagte, dass sie das Camp verlassen sollten, weil wir uns auf das Spiel konzentrieren wollten. Zwei Minuten später klingelte mein Handy. Unser Vorstandsvorsitzender sagte: „Bist du wahnsinnig. Wie kannst du die rausschicken?“. Es waren zwei Zauberdoktoren. Der eine von ihnen hatte ein lebendes Huhn dabei. Der eine hielt das Huhn, der andere schliff sein Messer. Unsere beiden Torhüter wurden geholt. Der eine Zauberdoktor spannte den Schnabel des Huhns auf, das wie wild gegackert hat. Unser Torwart  betete 20 Sekunden und rotzte dann in den Schnabel hinein. Der Ersatztorwart machte dasselbe. Dann wurde das Tier getötet. Das Blut wurde auf dem Spielfeld verteilt, Eier wurden drauf geworfen. Völlig verrückt. Das soll Glück bringen.
 
RUND: Ihre Mannschaft glaubt an die Zauberkräfte?
Tim Jost: Am Anfang habe ich mich natürlich gewundert. „Das meint ihr doch nicht ernst?“ Sie meinen „Das ist schon so.“ Es ist ein ganz großes Thema. Es gibt Spieler bei uns, die nicht daran glauben. Die meisten aber schon. Für viele ist es einfach auch nur Tradition, die dazugehört. Anfangs denkt man: „Ist doch alles Quatsch“. Aber wenn man irgendwann realisiert, dass die Mannschaft schon dahinter steht, ist es wie ein Placebo, das die Mannschaft zusammenrücken lässt. Das kann schon Kraft geben, auch wenn man selber nicht daran glaubt.
 
RUND: Gibt es Klubs, bei denen der Zauberer zum Stab gehört?
Tim Jost: Wir hatten selber einen Zauberer, der aber abgesetzt wurde. Er sagte, dass er nach Kiboma fahren müsse. Das sind von Mwanza aus 500 Kilometer. Da wimmelt es von Zauberdoktoren. Das wäre der beste Ort in Tansania. Er hat einen ordentlichen Batzen Geld eingesammelt, ist aber einfach zu Hause geblieben und hat das Geld für seine eigenen Zwecke eingesetzt. Er rief von zu Hause an. „Ja, ja, ich bin in Kiboma. Ich komme bald zurück.“ Da versuchen sich viele am Verein zu bereichern.
 
RUND: Wird bei der Konkurrenz ebenfalls mit Zauberkräften gearbeitet?
Tim Jost: Wir hatten ein Spiel bei Simba. Die sind momentan Tabellenführer. Wir kamen in die Kabine rein. Da konnte man nicht atmen. Sie hatten Gewürze verteilt. Gewürze angezündet. Salben verteilt. Der Effekt sollte sein, dass die Muskeln der Gegner gelähmt werden. Unvorstellbar: Wir mussten uns im Kabinengang umziehen.
 
RUND: Wie haben Sie sich auf diese für Europäer ungewöhnliche Situation eingestellt?
Tim Jost: Ich bin nicht direkt als Headcoach eingestiegen. Das war wichtig. Ich bin als Assistenztrainer gekommen. Toto ist Abstiegskandidat Nummer eins. Wir haben kein Geld. Deshalb ist es auch der größte Chaosverein hier. Nach acht Spieltagen ist der tansanische Cheftrainer entlassen worden. Die Fans haben Steine auf ihn geworfen. Ich habe lange mit ihm gesprochen. Er sagte, dass er freiwillig aufhört. Aber er hat auch befürchtet, dass seine Familie Schaden nehmen könnte, wenn wir weiter verlieren. Nach einer kurzen Zwischenzeit von ein, zwei Spielen hat man mich als Trainer ernannt. Ich hatte eine gute Einführung und wusste ungefähr, wie die Leute hier ticken. Das war ein relativ sachter Einstieg.
 
Das Team der Toto Africans

Das aktuelle Team der Toto Africans im Kirumba-Stadion in Mwanza.
Es fasst 35.000 Zuschauer, doch meist verlieren sich nur 1.000 Fans bei Toto-Heimspielen

 
 
RUND: Wie waren Sie zum Saisonbeginn zu Toto gekommen?
Tim Jost: Ich habe mich bei der Sportentwicklungsbehörde in Mwanza beworben, wollte nach dem Studium an der Sporthochschule da was machen. Der Gründer der Charity hatte die Connections zum Fußballverein. Ich wohne im Volunteerhouse mit derzeit acht Leuten der Sportscharity Mwanza zusammen. Es sind größtenteils Europäer hier. Die Aufgabe der Organisation ist es, Sportzentren zu bauen, um den Kindern die Möglichkeit zu geben, Sport zu treiben. Es gibt Fußball, Basketball, Volleyball und Netball. Das sind die beliebtesten Sportarten in Tansania. Wir versuchen, die Trainer auszubilden. Die Leute sind hier mit voller Leidenschaft dabei. Wenn wir als Freiwillige nach Tansania kommen, packen wir relativ wenig für uns selbst ein. Weil man hier mit relativ wenig auskommt. Winter gibt es hier nicht, deshalb kann man die dicken Pullis zu Hause lassen. Man versucht von Freunden, Verwandten und Vereinen etwas zu sammeln, um eine Box Fußballschuhe mitzunehmen, 20 Bälle oder einen Trikotsatz, den ein Fußballverein nicht mehr braucht. Die Leute hier freuen sich riesig darüber.
 
RUND: Wie hoch ist die Jugendarbeitslosigkeit in Tansania?
Tim Jost: Bei 90 Prozent. Selbst mit guter Bildung kann es sein, dass man keinen Job findet. Sport ist für viele eine Lebensstütze. Wir haben eine U20-Mannschaft, andere Jugendmannschaften haben wir gar nicht. Die U20 wurde eigentlich nur gegründet, weil es vom Verband so vorgegeben wurde. Ein wirkliches Interesse besteht von Vereinsseite aber nicht an diesem Team. Von den Spielern dieser Mannschaft gibt es nur einen, der bei der Bank arbeitet. Die anderen wissen nicht, was sie machen sollen. Viele U20-Spieler sprechen mich daher an, damit ich sie zum Training der ersten Mannschaft einlade.
 
RUND: Tansania ist eines der ärmsten Länder der Erde. Was verdienen Ihre Spieler?
Tim Jost: Wir liegen im Niveau der Liga weit unten. Wir haben keine Sponsoren. Bis auf den Ligasponsor Vodacom und das Fernsehen Asam TV. Manchmal gibt es ein paar Gönner aus der Stadt, die etwas Geld geben. Aber das ist nicht viel. Für die Profis gibt es zu Saisonbeginn ein Handgeld, die Signing fee, das ist bei unseren besten Spielern fünf Millionen Schilling, umgerechnet 2.100 Euro. Einige kriegen nur ein bis zwei Millionen Schilling, also 420 bis 840 Euro.
 
RUND: Und während der Saison?
Tim Jost: Im Monat bekommen sie im Durchschnitt zwischen 300.000 und 600.000 Schilling. Also umgerechnet zwischen 126 und 252 Euro. Das ist sehr viel für tansanische Verhältnisse. Die Spieler sind die Hauptverdiener der Familie. Davon geben sie einen Großteil ab. Deshalb können große Probleme entstehen, wenn Toto Zahlungsschwierigkeiten hat. Der tansanische Verband TFF hat jetzt angeordnet, dass die Spieler ein Bankkonto haben müssen. Es gab ein Riesentheater, weil beim Aushandeln der Gehälter nie über Steuern gesprochen wurde. Die werden jetzt zum ersten Mal in dieser Saison gezahlt und da waren die Spieler sehr sauer. Sie haben ein paar Trainingseinheiten bestreikt und sich dann wieder beruhigt.
 
RUND: Ist Korruption unter diesen Voraussetzungen ein Thema im tansanischen Fußball?
Tim Jost: Ein Riesenthema. Mir wurde gesagt, dass wir in der Vorrunde die Punkte holen müssen. Weil in der Rückrunde alles über Geld geht. Wenn wir gegen einen Titelaspiranten spielen, zahlt uns der andere Titelaspirant Geld, wenn wir gewinnen. Es kann aber passieren, dass der Gegner unseren Torwart bezahlt, damit er einen Ball durchlässt. Oder einem Stürmer von uns, damit er absichtlich am Tor vorbeischießt. Man hört so Sachen. Einmal hat ein Klub den Ersatzspielern des Gegners Geld bezahlt, damit sie eine Verletzung vortäuschen. Sie hatten nur noch elf Spieler, von denen sich einer noch eine rote Karte geholt hat. Sehr schwierig. Da kannst du trainieren, was du willst.
 
RUND: Wie ist Ihr Verhältnis zu den Spielern?
Tim Jost: Der Draht ist super. Hier wird mit dem Trainer ganz offen gesprochen. Es ist nicht so wie in Deutschland, wo man sich nicht traut, seinen Trainer anzusprechen. Wir haben im Spielercamp einen Tisch für Poll Billard, ein kleines Gym und eine kleine Playstation. Da kannst du als Trainer hingehen und Playstation mit den Jungs spielen. Nebenbei kannst du gut Einzelgespräche führen. Das einzige Problem ist, dass einige Spieler überhaupt kein Englisch sprechen. Im Training habe ich zwei, drei Spieler, die sehr gut übersetzen können. Im Spiel muss ich kurze Begriffe auf Swahili rein rufen. Sonst muss ich mir einen Spieler, der Englisch kann, holen, der übersetzt. Die Halbzeitansprache wird auch immer übersetzt. Aber es gibt immer wieder Situationen, auf die ich nicht vorbereitet bin.
 
RUND: Welche sind das?
Tim Jost: Wir hatten einen Spieler, der war vier Monate weg. Keiner wusste, wo er war. Keiner konnte ihn erreichen. Bei ihm ist der Vater verstorben. Er wollte zwei Wochen nach Daressalam fahren, kam aber nicht wieder. Dann war er auf einmal im Spielercamp. Wo bist du gewesen? Er war in Angola. Der Vater hatte 47 Kinder von unterschiedlichen Frauen. Er war ein reicher Geschäftsmann. Die Erbschaft musste aufgeteilt werden.
 
 Tim Jost beim Interview

Tim Jost beim Interview

 
Klicken Sie hier,  um Teil zwei des Interviews mit Tim Jost zu lesen
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