AUSSTELLUNG
Eine Brille für Blinde
Das Museum des FC St. Pauli präsentiert eine Weltneuheit, die sehbehinderte Menschen durch seine Ausstellung leitet. Von Folke Havekost.

 „Ich war überrascht, was das Gerät alles kann“: Serdal Celebi neben Ewald Lienen (l.) vor ihrem Brillentausch im Museum des FC St. Pauli. Foto: Sabrina Nagel „Ich war überrascht, was das Gerät alles kann“: Serdal Celebi neben Ewald Lienen (l.) vor ihrem Brillentausch im Museum des FC St. Pauli. Foto: Sabrina Nagel

 

Nicht nur beim Fußball kommt es auf die Laufwege an. Serdal Celebi steht über einer Vitrine, die in den Boden eingelassen ist. „Gerade bekomme ich eine Beschreibung“, erzählt der Blindenfußball-Bundesligaspieler des FC St. Pauli: „Über die Hafenstraße, den Torwart und den Fan mit den Tätowierungen.“

Celebi trägt die Kamerabrille „Blindspotter MR“, die blinde und sehbehinderte Menschen ab Montag durch die Ausstellung „Kiezbeben“ im Museum des FC St. Pauli begleiten soll. Mit dreidimensionalen Holografien und akustischen Signalen führt das 579 Gramm schwere Gerät durch den Raum. Als Celebi sich um 90 Grad dreht, hört er den vom langjährigen Stadionsprecher Rainer Wulff eingelesenen Informationstext nur noch auf einem Ohr – so soll die Räumlichkeit konkret erfahrbar werden.

St. Pauli soll der Anfang sein, folgt das Deutsche Museum?
„Ich war überrascht, was das Gerät alles kann. Die Brille erkennt auch kleine Bewegungen“, berichtet Celebi: „Man wird das System noch verfeinern müssen, aber es ist ein großer Fortschritt, um alleine in Ausstellungen gehen zu können.“

Das dem Fußball-Zweitligaverein gewidmete Museum ist das erste weltweit, das die auf Microsoft-Technik beruhende Neuheit anwendet. „Warte nicht, bis es andere tun, sondern mach es selbst!“, verweist Museumsvorstand Christoph Nagel auf die „lange Tradition des Do-it-yourself“ beim FC St. Pauli. Über Nutzerbefragungen soll das System optimiert werden: Etwa, welche Tonsignale am angenehmsten sind oder wie dicht ein Besucher sich Exponaten nähern muss, damit die Brille Rainer Wulffs Beschreibung abspielt.

„Blindspotter ist erst der Anfang, um Menschen Teilhabe zu ermöglichen“, kündigt der Fachinformatiker Marco Richardson an, der mit seiner Firma Inclusify die Ausstellungsräume im Millerntor-Stadion exakt vermessen und innerhalb von drei Monaten das Programm entwickelt hat.

„Wir standen vor zwei Aufgaben: Wie bekommt der Besucher die Information? Und wie findet er seinen Weg? Durch die Digitalisierung gibt es jedenfalls keine Ausreden mehr, Inklusion nicht mitzudenken.“

St. Pauli soll erst der Anfang sein. Das ungleich größere Deutsche Museum in München hat bereits Interesse signalisiert. „Die Idee ist, die Technik auch in anderen Institutionen einzusetzen“, sagt Christina Marx, Inklusionsbeauftragte der Aktion Mensch, die zu den Förderern von Blindspotter MR (MR steht für „Mixed Reality“) gehört: „Es wäre cool, wenn wir uns alle irgendwann im Louvre wiedertreffen würden.“ Auch Richardson hofft, dass die von ihm bei mancher Kulturinstitution beklagte „Welle der Trägheit“ bald abebbt.

„Inklusion ist eine Frage des täglichen Lebens“, sagt St. Paulis Technischer Direktor Ewald Lienen und tauscht seine „normale“ Brille mit Celebis Blindspotter, um selbst Erfahrungen zu sammeln. Der Blindenfußballer und ARD-Torschütze des Monats August 2018 stiehlt ihm allerdings die Schau, als er Lienens Brille aufsetzt, laut „Ich kann wieder sehen!“ durch den „Raum der Wunder“ ruft und „eins, zwei, drei, vier, fünf …“ die Anwesenden abzählt. „Der Anfang ist vielversprechend“, resümiert der 35-Jährige nach seinem Scherz: „Die 3D-Technologie mit der Stimme von Rainer Wulff kann ein echtes Highlight des Museums werden.“

Die Ausstellung „Kiezbeben“ über den FC St. Pauli in den 1980er-Jahren ist noch bis zum 11. August im Millerntor-Stadion zu sehen, hören und fühlen. Mittwoch bis Freitag ab 12 Uhr, am Wochenende ab 11 Uhr. Eintritt sieben, ermäßigt vier Euro.

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