WELTMEISTERSCHAFT
Amateure und Ausreißer
Die Schweiz wurde von der englischen Presse bei der WM 1966 aufmerksam beobachtet: Im Mutterland des Fußballs war es äußerst ungewöhnlich, dass die Mitglieder der „Nati“ noch nicht mit dem Kicken ihr Geld verdienten. Von Fabian Brändle

 

WM 1966: Heinz Schneiter und Uwe Seeler bei der Seitenwahl WM 1966: Die Kapitäne Heinz Schneiter (l.) und Uwe Seeler mit dem schottischen Schiedsrichter Hugh Philips bei der Seitenwahl in Sheffield. Foto: Imago

 

Diese Weltmeisterschaften sollten nicht nur wegen des berühmt-berüchtigten „Wembley-Tores“ im kollektiven Gedächtnis haften bleiben: Es war auch die WM des aufgehenden deutschen Superstars und Liberos Franz Beckenbauer, des portugiesischen Torschützenkönigs Eusebio (Benfica Lissabon), des englischen „Giftzwerges“ und Terriers Nobby Stiles, schließlich des sensationellen Sieges der kommunistischen Nordkoreaner gegen Italien.

England wurde1966, 1900 Jahre nach der Schlacht von Hastings, mit Gordon Banks, Bobby Moore, Bobby Charlton, Alan Ball und Geoff Hurst zum ersten und bisher einzigen Male Weltmeister im eigenen Land vor der BRD und vor Portugal.

Die ebenfalls teilnehmende Schweiz spielte rein sportlich eine inferiore Rolle: Drei Vorrundenspiele (gegen Deutschland, Spanien und Argentinien), drei Niederlagen und ein Torverhältnis von 1:9 (einziges Tor erzielt durch Quentin), so die ernüchternde Bilanz des Teams des italienischen Trainers „Dottore“ Alfredo Foni. Die Schweizer spielten nicht einmal so schlecht wie die Resultate vermuten lassen, allerdings zu offensiv, die die Fachzeitschrift „Sport“ nach den Weltmeisterschaften analysierte.

Die Schweizer, die sich in der Qualifikation eher überraschend gegen Nordirland (mit dem jungen, langmähnigen und Teenieschwarm George Best) und gegen Holland sowie gegen den hart, ja unfair spielenden Außenseiter Albanien durchgesetzt hatten, machten trotzdem Schlagzeilen in Zeitungen und am Fernsehen. Zum einen konnten die englischen Medien es nicht fassen, dass da Amateure, die im Privatleben einem bürgerlichen Beruf nachgingen, am Werk waren.

Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (1939) hatten die Amateuristen im damaligen „Schweizerischen Fussball- und Athletikverband“ (SFAV) Oberwasser bekommen und das Kicken gegen Geld streng verboten. Transfers wurden auch eingeschränkt. Verstöße wurden mit langen Sperren und hohen Bussgeldern streng bestraft. Erst Mitte der 1950er Jahre wurden diese ehernen Gesetze etwas gelockert, und die Young Boys Bern setzten Halbprofis ein, die gegen wenig Geld dem Ball nachjagten. Dabei blieb es bis in die 1970er Jahre hinein.

Zum eigentlichen Mythos gerann die berüchtigte „Nacht von Sheffield“ vor dem Startspiel gegen den Gruppenfavoriten BRD (0-5, zwei Tore Hallers). Drei Schweizer Spieler, nämlich Jakob „Köbi“ Kuhn und Walter Leimgruber vom FC Zürich sowie Ersatztorhüter Leo Eichmüller von Lausanne-Sports, verpassten eines Rendez-Vous mit zwei Engländerinnen in Miniröcken wegen den Zapfenstreich um rund 30 Minuten und wurden öffentlich gemaßregelt, später sogar verbandsintern gesperrt. In seiner Autobiographie erinnerte sich der talentierte Mittelfeldspieler und spätere populäre Nationaltrainer „Köbi“ Kuhn, dass er des kleinen Skandals wegen Probleme mit seiner Frau Alice bekommen hatte. Einzig der tadellose Leumund seines Zürcher Vereinskollegen Walter Leimgruber habe geholfen, dass alles wieder in Ordnung kam und ihn Alice nicht verlassen habe.

Drittens schließlich pfiff ein Schweizer als Schiedsrichter das legendäre Endspiel im Wembley-Stadion, nämlich der Basler Gottfried „Gotti“ Dienst. Ihm lasteten die Deutschen nach dem Match Parteilichkeit an, weil er das ominöse dritte Tor von Geoff Hurst (West Ham United) gegeben hatte. „Gotti“ Dienst hatte allerdings vorher gut und neutral gepfiffen und vor dem Entscheid seinen Linienrichter aus der Sowjetunion eigens um Rat gefragt. Wie dieser entschied er schließlich auf Tor.

War der Ball drin? Darüber streiten Fans und Wissenschaftler seit nunmehr beinahe 50 Jahren. Auf beiden Seite werden immer neue Beweise vorgelegt. Ein Schweizer namens Dienst jedenfalls stand in Brennpunkt des Geschehens. In späteren Jahren wirkte „Gotti“ Dienst als Reisebegleiter bei Sportreisen.

Die bei den Fans immer noch beliebte Schweizer „Nati“ sollte sich bis zum Jahre 1994 niemals mehr für eine WM qualifizieren. Erst Modernisierung und eine Professionalisierung des Trainings und der Rahmenbedingungen brachten sie zwei bis drei Schritte weiter.

 

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