ECKBALL
Um die Ecke gedacht
Ein Drittel aller Tore fällt im modernen Fußball nach Standardsituationen, viele davon nach einem Eckball. Dabei gibt es doch scheinbar nur wenige Varianten, den Ball in den Strafraum zu schlagen. Doch ist das, was im Sechzehner passiert, ist choreografiert wie im Tanztheater. Von Malte Oberschelp

Eckball
Standardituation: Nach Eckbällen wird es gefährlich Foto Sebastian Vollmert


„Ein jeder Eckball barg teutonische Gefahr“, heißt es in einem Sonett, dass der deutsche Schriftsteller und Fußballfan Ludwig Harig über das WM-Endspiel 1954 geschrieben hat. In der Tat waren es die Deutschen, die den Wert dieser Standardsituation als Erste erkannten. Schon in seiner Diplomarbeit von 1930 hatte Sepp Herberger die große Bedeutung der Eckbälle beschrieben und empfahl unter anderem das Freisperren aussichtsreich postierter Spieler. Seinen Kapitän Fritz Walter machte er später zum besten Eckballschützen seiner Zeit.

1954 in der Schweiz fielen im Halbfinale gegen Österreich zwei Tore nach Ecken, im Finale gelang das 2:2 nach einer feststehenden Variante. „Corner Nummer eins war kurz gekommen, also kam – verabredungsgemäß – die zweite lang“, berichtet Helmut Rahn in „Mein Hobby: Tore schießen“ und ging seinem Steckenpferd prompt am zweiten Pfosten nach. Oder wie Harig schrieb: „Der einstudierte Eckball verwirrte Ungarns Elf mit kryptischer Parabel.“

Heute ist die enorme Bedeutung der Standardsituation allgemein anerkannt. Mehr noch: Sie ist zu einem Spiel im Spiel geworden. Ein Drittel aller Tore fällt im modernen Fußball nach Standardsituationen, etwa jede dritte davon ist eine Ecke. In der Hinrunde der Saison waren das 42 Treffer nach Eckbällen, und diese verteilen sich höchst ungleichmäßig. Hertha BSC traf zum Beispiel fünfmal nach Ecken, Hannover überhaupt nicht. Fünf Tore mehr oder weniger – das kann gleich mehrere Spiele entscheiden.

Warum diese Tore fallen oder nicht fallen, ist für die Zuschauer selten nachzuvollziehen. Vieles sieht nach Zufall aus: Die Ecke kommt herein, alles stürzt in Richtung Ball, irgendein Spieler köpft ihn weg oder aufs Tor. Doch was im Strafraum passiert, ist so streng choreografiert wie modernes Tanztheater. „Bei fünf oder sechs Spielern werden die Laufwege zum Tor klar definiert“, erklärt Jupp Heynckes, „jeder hat seine Position, seinen Raum.“ Bei Mönchengladbach klappt das recht gut. Der Klub steht zumindest in der Eckenstatistik der Hinrunde mit vier Toren in der Spitzengruppe und hat nach 86 Versuchen des Gegners nur ein Tor zugelassen – ein sehr guter Wert. Vielleicht liegt es ja daran, dass der Trainer während seiner aktiven Laufbahn ein paar Dutzend Treffer nach Ecken erzielt hat.

Grundsätzlich viel geändert hat sich seitdem nicht, sagt Heynckes. Die Varianten sind begrenzt: Ecken können entweder mit Schnitt zum Tor hin oder vom Tor weg getreten werden, das ist der wichtigste Unterschied. Sie landen vergleichsweise weich am kurzen Pfosten, um von dort verlängert zu werden, oder scharf zentral vor dem Tor. Seltener sind das Zuspiel in den Rückraum – Lothar Matthäus hat danach mit einer Direktabnahme mal ein Tor des Jahres geschossen – und die kurze Ecke, die einen besseren Winkel für die Hereingabe erlaubt oder kurz vor dem Abpfiff gespielt wird, um Zeit zu gewinnen. Nach 1924, als die Fifa die direkte Verwandlung einer Ecke erlaubte, ist eine weitere Variante dazugekommen. Damit waren so unterschiedliche Spieler wie Diego Maradona und Mario Basler erfolgreich.

Dieses Arsenal der Möglichkeiten hat sich im Lauf der Jahre allerdings immer weiter verfeinert. Heute gibt es in jeder Mannschaft Eckballspezialisten. „Sie brauchen jemand, der den Ball mit Vehemenz vor das Tor schlagen kann“, sagt Heynckes, „angeschnitten, aber mit Druck.“ Ideal sind Bälle auf jener imaginären Linie, bei der die Torhüter nicht wissen, ob sie herauskommen sollen oder nicht. Sebastian Deisler war ein Spieler, der das perfekt konnte. Seine Eckbälle fielen im Strafraum herunter wie einst die Freistöße von Zico. Gleichzeitig versuchen die Angreifer, jeweils in ihrer Zone den Gegenspieler durch einen angetäuschten Laufweg loszuwerden. Auch das Herberger’sche Freisperren von Spielern wird heute noch praktiziert. „Das sind alles Dinge, die intensiv trainiert, die automatisiert werden müssen“, sagt Heynckes. Mindestens einmal die Woche stehen Eckbälle auf seinem Programm.

Ralf Rangnick von der TSG Hoffenheim hat sich vorgenommen, diese Übungen in der Rückrunde noch zu intensivieren. „Wie viele Tore durch Standards fallen, spiegelt sich kaum in der Trainingszeit der meisten deutschen Vereine wider“, sagt er, „und wenn, werden eher die eigenen Standards geübt als die Abwehr gegnerischer.“ Auch Rangnick ist der Ansicht, dass sich bei der Ausführung von Ecken wenig verändert hat – abgesehen davon, dass Stürmer und Abwehrspieler größer und athletischer geworden sind. Tatsächlich sieht man in den deutschen Stadien immer wieder das gleiche Bild. Einer führt die Ecke aus, fünf versuchen im Strafraum das Tor zu machen, zwei warten vor dem Sechzehner auf zu kurz abgewehrte Bälle und zwei bewachen den gegnerischen Stürmer an der Mittellinie.

Trotzdem glaubt Rangnick, dass das Potenzial dieser Standardsituation längst noch nicht erschlossen ist, gerade was die Verteidigung angeht. „In Deutschland wird bei Ecken, anders als bei europäischen Spitzenklubs, kaum mit Raumdeckung gespielt“, sagt Rangnick. Konkret heißt das: Vor dem Spiel teilt der Trainer den größten Spielern des Gegners jeweils seine größten Spieler zu. Wenn etwas schiefgeht, sagt der Trainer dann in der Fernsehanalyse: Die Zuordnung hat nicht gestimmt. Mit anderen Worten, einer der Bewacher hat geschlafen.

Doch was tun, wenn der Gegner – sagen wir: Werder Bremen – so viele Riesen in der Mannschaft hat, dass man ihnen gar nicht genug ebenbürtige Spieler zuordnen kann? Rangnick nennt den grundlegenden Vorteil der Zonendeckung: „Wenn ich im Raum absichere, habe ich meine besten Kopfballspieler schon da, wo der Ball wahrscheinlich hinkommt.“ Anstatt als Manndecker nur auf die Aktionen der Angreifer zu reagieren und am Ende vielleicht abgehängt zu werden, können die Abwehrleute von sich aus in den Ball hineingehen. „Dafür braucht man Spieler, die antizipieren können“, sagt Heynckes, der gleichwohl lieber mit klarer Zuordnung arbeitet.

„Mit der Raumdeckung bei Standards ist es wie früher mit der Raumdeckung in der Abwehr: Deutschland liegt 15 Jahre zurück“, glaubt Rangnick. Ähnlich ist es mit der Frage, ob und wie bei Ecken die Pfosten abgedeckt werden sollen. Steht einmal kein Feldspieler in einer der Ecken und fällt genau dort das Tor, wird das häufig als Fehler ausgelegt. Heynckes verweist dann auf den FC Porto, der unter José Mourinho mit verwaisten Pfosten die Champions League gewann. Denn man kann die Sache auch so sehen: Beide Pfosten zu besetzen führt zu Kompetenzgerangel mit dem Torhüter und bindet unnötig Personal. Mourinho konnte stattdessen drei Spieler vorne lassen und zwang den Gegner damit, aus Angst vor einem schnellen Gegenstoß seinerseits Spieler aus dem Strafraum abzuziehen. „Wenn Sie Spieler haben, die kopfballstark sind und antizipieren können, dann können Sie aus einem Eckball des Gegners auch einen Konter einleiten“, sagt auch Heynckes.

Ralf Rangnick nennt das „die Flucht nach vorne“. Er vermisst solche Manöver, die intelligent den Stärken des Gegners begegnen. „Wenn ich etwa zwei Mann vorne lasse und sie nicht zentral, sondern an den Seiten postiere, weiß der Gegner nicht, wie er seine drei Gegenspieler verteilen soll“, sagt er. Oder erwähnt eine Variante, die Volker Finke einmal mit dem SC Freiburg ausprobierte. Da blieb das Gros der Spieler auf der Torlinie stehen und lief erst dann in den Strafraum, als der Eckball ausgeführt wurde. Die andere Mannschaft blieb, ihrer Gegenspieler verlustig gegangen, einigermaßen verwirrt zurück. Andere Bundesligaklubs versammeln ihre Akteure weit vor dem Strafraum und laufen dann, vorzugsweise bei Ecken vom Tor weg, wie eine Welle nach vorne. „Bei den Standards geht es auch um Kreativität“, meint Rangnick, „das ist ganz sicher noch nicht ausgereizt.“

Eine Variante allerdings gibt es schon längst nicht mehr. Vor über 100 Jahren, als man in manchen Teilen des Deutschen Kaiserreichs die englischen Regeln noch nicht allzu genau kannte, entschied nach 90 Minuten bei einem Unentschieden – die Zahl der Eckbälle.


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