VERTEIDIGENDE STÜRMER
Dann geht der drauf
Der moderne Fußball ist so schnell, dass schon die Angreifer verteidigen müssen. Das ist einfach, auch wenn es viele unterschiedliche taktische Konzepte gibt. Viel schwieriger wird es, wenn ein Stürmer erklären soll, warum und wie er eigentlich Tore schießt. Von Roger Repplinger

Stürmer
Ganz hinten: Kevin Kuranyi hilft
vor dem eigenen Tor aus Foto Hochzwei

 


Um zum Trainingsgelände von Hertha BSC Berlin zu kommen, geht man von der Rominter Allee in einem Bogen zur Hanns-Braun-Straße. Da ist links im Wald eine von Moos und Gras überwachsene Treppe. Die Treppe endet an einem Zaun, wohin sie mal geführt hat ist nichts mehr. „Pantelic, Pantelic“, krähen die Kleinen, die kurz vor zehn Uhr am Trainingsplatz der Hertha stehen, über den sich graue Wolken schieben, zwischen denen am Horizont ein goldener Streifen leuchtet. Unterm Gold liegt Polen.

Marko Pantelic kommt angetrabt. Die Kleinen winken, Pantelic winkt zurück. Als er den Platz betritt beugt er sich hinunter, seine Hand streift den feuchten Rasen, dann bekreuzigt er sich. Stürmer brauchen Liebe und Beistand. An Stürmern ist etwas, das weder sie selbst noch sonst jemand erklären kann.

Doch fangen wir mit dem Erklärbaren an: der Defensive. Wenn der Gegner den Ball hat, muss der Stürmer zunächst versuchen, hinter den Ball zu kommen. Sonst ist er aus dem Rennen. „Stürmer müssen sich verschieben, den Mittelfeldspielern helfen, Bälle zu erobern, doppeln. Je früher wir einen Ball erobern, desto kürzer ist der Weg zum Tor“, sagt Falko Götz, Trainer von Hertha BSC Berlin. „Es ist in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden, dass wirklich alle ihre Defensivaufgaben erfüllen. Früher begann das Abwehrverhalten im defensiven Mittelfeld und war bei Torwart und Verteidigern konzentriert. Das geht bei dem Tempo, das heute gespielt wird, nicht mehr.“

Die Defensivarbeit der Stürmer ist je nach Spielsystem mehr oder weniger wichtig. Bayern Münchens Roy Makaay hat bei seinem vorherigen Verein Deportivo La Coruña in einem 4-5-1 gespielt. „Das ist ja, wenn man genau hinschaut, ein 4-2-3-1“, sagt Makaay, „das bedeutet für den Stürmer, dass er kaum defensive Aufgaben hat.“ Bei Deportivo liefen die offensiven Mittelfeldspieler mehr, weil sie bei Ballbesitz des Gegners den defensiven Mittelfeldspielern und bei Forechecking oder Pressing dem Stürmer helfen mussten.

„Entscheidend ist die Frage, wo ich das Pressing beginne, am gegnerischen Strafraum oder weiter hinten“, sagt Götz. Noch entscheidender ist, dass alle mitmachen. Mittelfeld und Abwehr müssen aufrücken, Laufwege zu und Anspielstationen dicht sein. Bei den Bayern geht die Initiative zum Pressing nicht von den Stürmern, sondern vom Mittelfeld aus: „Geh drauf“, sagt Hasan Salihamidzic zu Makaay, und dann geht der drauf. Pizarro muss das aus dem Augenwinkel sehen und seinen Innenverteidiger so zustellen, dass der nicht angespielt werden kann. Die Mittelfeldspieler rücken auf und machen das Spielfeld eng, die Bayern-Abwehr schiebt nach vorne. „Zur Not“, sagt Makaay, „kann man auch mal zu zweit forechecken. Es darf nur nicht die ganze Zeit so sein, dass wir wie die Bescheuerten laufen, und die anderen nicht mitmachen.“

Es gibt Stürmer, die gerne mit und ungern gegen den Ball spielen. Sie dazu bringen, es trotzdem zu tun, „daran arbeite ich täglich“, sagt Götz. Marcelinho und Alex Alves stellten in dieser Hinsicht höchste Anforderungen an die Geduld ihres Trainers: „Es war ein Dauerprozess, die beiden davon zu überzeugen, in einem Gefüge von elf Spielern Defensivarbeit zu verrichten.“ Permanent analysierte Götz mit Marcelinho die Hertha-Spiele, diskutierte sein Defensivverhalten: „Das hat dann im Spiel mal besser, mal schlechter geklappt.“

Auch Mario Gomez vom VfB Stuttgart, bei dem es so aussieht, als wäre ihm das Spiel gegen den Ball in die Wiege gelegt, „hatte das nicht in petto, als er hierher kam, das hat er in der VfB-Jugend und bei den Amateuren gelernt“, sagt sein Trainer Armin Veh. Ex-Hertha-Stürmer Michael Preetz erlebte es in seiner Karriere nur einmal, dass ein Trainer „nicht wollte, dass ich nach hinten arbeite“. Dieser Trainer sagte: „Ich will dich da nicht sehen, nicht mal bei Eckbällen und Freistößen.“ Das war in Saarbrücken, der Trainer hieß Peter Neururer.

Manchem Stürmer wäre es wohler in seiner Haut, wenn er einen solchen Coach hätte. Sibusiso Zuma von Arminia Bielefeld fragt sich zum Beispiel manchmal, „was ich da mache“, wenn er einen dieser großen Kerle angreift, die 20 Zentimeter größer und 20 Kilo schwerer sind als er. Preetz dagegen meint, dass kleine Stürmer fürs Forechecking keinen Mut brauchen. Denn gerade Angreifer wie Pantelic und Zuma jagen athletischen, aber technisch schwachen Innenverteidigern eine Heidenangst ein. Während der Verteidiger defensiv Zweikämpfe auch gewinnt, weil er körperlich stärker ist, kann ihn der Ballbesitz schwächen. So zahlt ihm der Stürmer die blauen Flecken heim.

Wer welchen Innenverteidiger angreift entscheidet die Spielsituation. Auch Stürmer agieren bei der Arbeit gegen den Ball im Raum. „Ob ich den rechten oder den linken Innenverteidiger angreife, hängt davon ab, wie die Situation vorher endete“, sagt Makaay. Er stellt den Abwehrspieler, dem er am nächsten ist, Claudio Pizarro übernimmt den anderen. Makaay achtet darauf, den Verteidigern nicht zu weit Richtung Mittellinie zu folgen, sondern sie zu übergeben: „Sonst wird, wenn wir in Ballbesitz kommen, der Weg zum gegnerischen Strafraum zu weit.“

Herthas Stürmer lassen bei Forechecking und Pressing einen bestimmten gegnerischen Spieler frei. Das ist ein vergiftetes Angebot. Über diesen Mann soll der Spielaufbau laufen. Kaum hat er den Ball, schnappt die Falle zu. Ähnlich die Bayern: „Wenn wir von einem Innenverteidiger wissen, dass er nur einen rechten Fuß hat, versuchen wir ihn dadurch, dass wir links alles zustellen, in Schwierigkeiten zu bringen“, sagt Makaay.

Beim VfB gibt es verschiedene Varianten: „Wollen wir den Gegner rausspielen lassen? Oder stellen wir alles zu und zwingen den Torwart zum Abschlag, weil der Gegner kleine Mittelfeldspieler hat und wir die Kopfballduelle gewinnen? Hat der Gegner einen Schwachpunkt auf der Seite, dann wollen wir, dass der angespielt wird“, sagt Veh. Bei jeder Variante haben Cacau und Gomez andere Aufgaben.

Götz sucht, weil die Aufgaben eines Stürmers so vielfältig sind, nach der richtigen Kombination von Stürmertypen. Er spannt gerne einen athletischen, kopfballstarken, großen Stürmer und einen kleinen, wendigen Dribbler, der den Ball halten und Fouls provozieren kann, zusammen. Beide müssen sich verstehen, sich Tore gönnen, sich für den anderen opfern. „Wie das die Bremer vorbildlich tun: Klose legt für Klasnic auf, für Hunt, für Almeida, und umgekehrt ist das genauso“, das imponiert Götz. Bei den Bayern passen Makaay und Pizarro zueinander wie Mandel und Pistazie. Makaay knipst, ist beidfüßig, Pizarro ist ein spielender Stürmer, stark am Ball. „Unsere größte Stärke ist, dass es im nächsten Spiel andersherum sein kann“, weiß Makaay.

Und da sind wir beim Tore schießen. Dem Ziel des Fußballs, dem einfachsten, schwierigsten Teil des Spiels.

„Die Fähigkeit Tore zu schießen hat man oder man hat sie nicht“, behauptet Makaay, „man kann es auch nicht erklären. Und nicht trainieren.“ Götz spricht in diesem Zusammenhang von zwei Elementen: Instinkt und Antizipation. Antizipation, das Vorausahnen von Situationen, ist trainierbar. Das hat auch mit Erfahrung zu tun. Die Mitspieler müssen ihre Stürmer kennen, müssen wissen, was sie mögen, was sie können: Für Pantelic den Ball in den Fuß, für Ailton in den Lauf, für Makaay in die Nahtstelle der Abwehrkette. Stürmer müssen den Gegner kennen und das Typische immer wiederkehrender Spielsituationen erfassen. Dann ahnen sie, wo der Ball landet, und stehen da, als hätten sie es vorher gewusst. Das ist das Dunkle, Unerklärliche beim Fußball. Makaay nennt es „Intuition – genau da stehen, wo man stehen muss“.

Der Stürmer lebt in Zyklen: Hochs und Tiefs wechseln sich ab. Ist es nicht so, dass Stürmer immer nur zwischen ihren Krisen treffen? Götz lacht und schüttelt den Kopf: „Nein, nein, sie schießen erst Tore und geraten dann in ein Tief, dann kommt wieder ein Hoch.“ Daran sieht man, dass Götz Optimist ist. Einem Stürmer im Tief, „hilft Kritik nicht. Das macht alles nur schlimmer. Man muss weiterarbeiten, Ruhe bewahren, dem Spieler Sicherheit über Selbstvertrauen geben“, sagt Götz.

Wenn Makaay nicht trifft, seine Treppe ins Nichts führt, dann weiß er aber wenigstens, „dass ich alles verlieren kann, nur meine Intuition nicht“. Das beruhigt ihn.


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