AUTOGRAMM
Doppelter Ernst
Als Ernest Wilimowski schoss er Tore für Polen und als Ernst Willimowski für Nazi-Deutschland. Der Oberschlesier zählt zu den großen Stürmern des Fußballs. Hin- und hergetrieben zwischen den politischen Systemen, wurde Fußball zum Mittel, um zu überleben. Von Rainer Schäfer




Autogramm Wilimowski
"Mal der Pole, mal der Deutsche": Ernst
Wiimowski spielte für beide Nationalteams Foto Benne Och

 

In den frühen Morgenstunden hatten die brasilianischen Funktionäre scheinbar ihr Ziel erreicht: In einem Pariser Nachtclub hatte der vergnügungswillige Ernest Wilimowski einen Vertrag unterschrieben, der ihn verpflichtete, mit nach Brasilien zu fahren; bei Tageslicht konnte sich Wilimowski nicht mehr daran erinnern. Kurz zuvor hatte der polnische Stürmer im Achtelfinale der Fußballweltmeisterschaft 1938 in Frankreich gleich vier Tore gegen Brasilien geschossen, das noch mit 6:5 nach Verlängerung gewann.

Ein famoser Auftritt, der nicht nur bei den Brasilianern Begehrlichkeiten geweckt hatte, auch einen Vertrag beim FC Racing Paris soll der 22-Jährige unterschrieben haben – den polnischen Fußballfunktionären war es einerlei, sie dachten gar nicht daran, ihren genialen Stürmer abzugeben. Wilimowski musste mit zurück nach Polen, wo er schon als 18-Jähriger 1934 mit Ruch Chorzów polnischer Fußball-Meister wurde, ein Erfolg, den Ruch 1935, 1936 und 1938 wiederholte. Mit 17 spielte „Ezi“ zum ersten Mal in der polnischen Nationalelf, für die er insgesamt 25-mal auflief und dabei 25 Tore erzielte.

Geboren wurde Wilimowski am 23.6. 1916 in Kattowitz im damals deutschen Oberschlesien, das ab 1922 nach einem Volksentscheid zu Polen zählte. Wilimowski zählte zur deutschen Minderheit, als begnadeter Fußballer war ihm trotzdem ein privilegiertes Leben möglich. „Er hat ausschließlich Fußball gespielt und hatte eine exponierte Stellung“, sagt Sylvia Haarke, eines von vier Kindern Wilimowskis.

Am linken Fuß hatte er sechs Zehen, Spezialschuhe trug er keine, die meisten Tore schoss er mit links, mit seiner „Glückszehe“, obwohl er rechts über mehr Schusskraft verfügte. Wilimowski war abergläubisch, am Fußballstrumpf trug er immer ein Heiligenmedaillon. Der feine Techniker narrte Abwehrspieler und Torhüter reihenweise mit seinen instinktiven Körpertäuschungen und Drehungen, die ihm den Ruf des „Schlitzohrs“ einbrachten.

Nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen wurde der Oberschlesier Deutscher und nannte sich fortan Ernst Willimowski. „Er hat sich nie viel aus Nationalitäten gemacht. Er war mal der Pole, mal Deutscher, so wie er am besten durchkam“, erinnert sich Tochter Sylvia. „Seine Schlitzohrigkeit hat ihm damals das Leben gerettet.“

Reichstrainer Sepp Herberger, der 1938 ebenfalls die Willimowski-Gala gegen Brasilien bestaunt hatte, zögerte nicht, den „Volksdeutschen“ in die Nationalmannschaft zu berufen. In acht Länderspielen, die der Stürmer 1941 und 1942 absolvierte, erzielte er 13 Tore. Willimowski machte im nationalsozialistischen Deutschland das, was er am besten konnte: Tore schießen. Die waren seine Überlebensgarantie. Vor den Spielen trank er Buttermilch und schlürfte rohe Eier. „Er war kein politischer Mensch, er wollte nur Fußball spielen. Er hat sich da hingestreckt, wo er das konnte“, weiß Sylvia Haarke.

Fußball war aber auch sein Mittel, um bedrohliche Situationen zu
meistern: Um dem Fronteinsatz zu entgehen, spielte Willimowski ab 1942 in der sehr gut besetzten Soldatenelf „Die Roten Jäger“, die sich der hochdekorierte NS-Jagdflieger Hermann Graf als Zeitvertreib zwischen Einsätzen leistete. Graf sammelte Nationalspieler wie Fritz Walter und Willimowski um sich, er selbst stellte sich ins Tor.

Als Willimowskis Mutter Pauline, die mit einer Liebesbeziehung zu einem russischen Juden gegen die „Rassengesetze“ verstoßen hatte, in das KZ Auschwitz eingeliefert wurde, nutzte Ernst Willimowski die Beziehung zum Ritterkreuzträger. Graf erreichte die Entlassung der Inhaftierten. „Sie wurde in Auschwitz gefoltert und hat das nie vergessen können. Auch Ernst hat darunter gelitten, er hat aber nie viel darüber gesprochen“, erzählt Schwiegersohn Karl-Heinz Haarke. Die emotionalen Nöte, die Willimowski als „Volksdeutscher“ zwischen Vorzeige-Nationalsozialisten wie Graf erfahren haben dürfte, behielt er jedenfalls für sich.

Ruhelos trieb es ihn nach Kriegsende von Verein zu Verein, bevor er in Südbaden sesshaft wurde. Nach außen hin galt Ernst Willimowski als Frohnatur und zufriedener Mensch. Doch dass durch die Kriegsjahre seine Fußballerkarriere gelitten hatte, war die „Tragik seines Lebens, dieser Phase hat er immer nachgetrauert“, so Karl-Heinz Haarke.

Mit 39 Jahren wurde er 1955 noch Torschützenkönig beim VfR Kaiserslautern in der Oberliga Südwest, zur höchsten deutschen Spielklasse zählend. In Karlsruhe, wo Willimowski lange lebte, starb er 1997.

In Polen gilt er noch heute neben Grzegorz Lato und Zbigniew Boniek als einer der besten polnischen Fußballer aller Zeiten. In den ewigen Torjägerlisten steht er mit 1175 Pflichtspieltoren hinter Artur Friedenreich und Pelé, aber noch vor Franz „Bimbo“ Binder, Ferenc Puskas und Alfredo di Stefano.

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