POSTKARTE
„Aus London herzliche Grüße“
Eine zufällig entdeckte Postkarte erzählt von der Schiffsreise der deutschen Nationalelf 1954 nach London und der 1:3-Niederlage gegen England in Wembley. Von Rainer Schäfer


 
 
Postkarte von 1954
Alle haben unterschrieben: die Autogramme
der DFB-Elf, die als Weltmeister in Wembley spielte und 1:3 verlor Foto Benne Ochs

 

 

Hanser ist ein kauziger Typ, der selten redet. Was uns verbindet, ist die Begeisterung für Fußball-Devotionalien: Seine Wohnung ist ein Fundbüro für Schätze aus dieser oft bizarren Welt. Kürzlich kam er mit einem Fundstück an, das er in einer speckigen Ausgabe von Herman Melvilles „Moby Dick“ entdeckt hatte: Einer Postkarte, in London abgestempelt und an Kurt Kiesel und die Firma Holm in Hamburg adressiert.

Das Bildmotiv zeigt die Lambeth-Brücke in London, auf der Rückseite stehen etliche Signaturen, einige davon gut zu entziffern: Herberger, Waldner, Herkenrath. Hat da nicht auch Uwe Seeler unterschrieben? Abgestempelt wurde die Postkarte vermutlich am 30. November 1954. Wir brauchten nicht lange, um im „Kicker Almanach“ das Spielstenogramm dazu zu finden. Am 1. Dezember 1954 verlor die deutsche Nationalmannschaft im Wembley-Stadion vor 100.000 Zuschauern 1:3 gegen das englische Nationalteam mit: Herkenrath - Posipal, Kohlmeyer - Erhardt, Liebrich, Harpers - Kaufhold, Pfeiffer, Seeler, Derwall und Beck, den alle nur Coppi riefen. Der stürmte ansonsten für den FC St. Pauli und erzielte in seinem ersten und letzten Länderspiel gleich ein Tor. Das erste, wie Hanser weiß, das ein deutscher Nationalspieler auf englischem Boden erzielte.

Am 28. November hatten sich 15 Nationalspieler (neben der ersten Elf noch Kubsch, Waldner, Kraus und Miltz) und Bundestrainer Sepp Herberger mit dem Schiff auf den Weg nach England gemacht. Als sie in Harwich ankamen, waren die meisten seekrank. Aus der Weltmeister-Elf von Bern waren nur noch Kapitän Posipal, Kohlmeyer und Liebrich übrig geblieben.

Aber wer war Kurt Kiesel, wer die Firma Holm? Hanser zieht diesen Gesichtsausdruck auf, wie immer, wenn er zum Fußballdetektiv wird. Zwei Tage später ruft er an: Beck und Posipal waren angestellt bei „Betten-Holm“, Kiesel dort Geschäftsführer. Der Firmen-Eigentümer, Albert Götz, war einer der Wirtschaftswunder-Kapitäne, der große Wagen chauffierte, schöne Frauen liebte und über 70 erstklassige Fußballer um sich scharte. Als Grün-Weiß 07 stieg die Werksmannschaft von Holm bis in die zweithöchste Spielklasse auf, der Durchmarsch endete jäh, als der maßlose Götz „Betten-Holm“ in die Millionenpleite manövrierte. Beim nächsten Mal, sagt Hanser, weiß er sicher noch einiges mehr.

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