SCHWULER HSV-PRÄSIDENT
Verehrt, verfolgt, entmannt
Das Schicksal des ehemaligen HSV-Präsidenten Emil Friedrich Martens: Der beliebte Spieler und Funktionär wurde im Dritten Reich mehrfach verhaftet und eingesperrt, bis er sich zu einem schlimmen Schritt entschloss: Er ließ sich kastrieren. Von Broder-Jürgen Trede

HSV-Team 1921
Bessere Zeiten: Emil Martens war der Größte in der HSV-Mannschaft von 1921
Foto HSV-Archiv



Eine der wenigen noch erhaltenen Aufnahmen von Emil Martens zeigt einen gebrochenen Mann: ausgemergelt, komplett entkleidet, wehrlos dem Objektiv der Kamera ausgeliefert. Das Bild verstört. Vor allem, weil es überhaupt nicht zur Beschreibung passt, den die HSV-Chronik „Immer erste Klasse“ vom einstigen HSV-Vorsitzenden liefert: „Ein typischer Vereinspatriarch, dem es gelang, gleichermaßen respektiert, beliebt und gefürchtet zu sein – sozusagen der Inbegriff des ,Löwen vom Rothenbaum‚Äò“. Noch einmal der Blick auf das Foto: Nein, der Mann hat so gar nichts Löwenhaftes mehr an sich. Die Differenz Bild und Wort könnte größer kaum sein und beschreibt doch Emil Martens Lebensgeschichte genau.

Auf der einen Seite steht der überaus erfolgreiche Vereinsvorsitzende. Ein HSVer der ersten Stunde, Mitglied seit 1907, der nahezu seine komplette Freizeit in den Verein investiert. Zunächst als begeisterter Aktiver und langjähriger Spielführer der siebten Mannschaft, dann zunehmend als Funktionär in verschiedenen Ausschüssen und Posten. Ein Erfolgsmensch, der als zuverlässiger Geschäftspartner, hervorragender Organisator, akribischer und korrekter Arbeiter gilt. Kurz: Ein hanseatischer Kaufmann aus dem Bilderbuch, noch dazu ein guter Gesellschafter und Tänzer – charismatisch, rhetorisch begabt, kommunikativ.

Fast logisch, dass Martens Weg im Verein nach ganz oben führt. Vom 4. Februar 1928 bis zum 25. Januar 1934 amtiert er als HSV-Vorsitzender. Seine Arbeit hinterlässt deutliche Spuren – bis heute. Martens ist Motor einer beispiellosen Modernisierung, die aus einem eher provinziellen Durchschnittsklub einen Großverein mit professionellen Strukturen werden lässt. Auf sein Bestreben hin erwirbt der HSV ein weitläufiges Gelände am Ochsenzoll und baut es zwischen 1929 und 1931 aus. Neben dem Rothenbaum wird diese Anlage zur zweiten HSV-Heimat. Der Klub ernennt ihn zum Ehrenmitglied und zum Ehrenvorsitzenden: „Unser Emil, dem die Sache alles und die Person nichts ist.“

Der andere, bislang unbekannte Teil von Martens Biografie findet sich im Hamburger Staatsarchiv. Trotz Vernichtung einschlägiger Unterlagen sind fünf Aktenkonvolute erhalten geblieben – nicht-öffentliche Vernehmungsprotokolle und Polizeiakten, die über Emil Martens als Opfer der erbarmungslosen nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung Auskunft geben. Aufgestöbert hat sie Dr. Gottfried Lorenz. Der Historiker erforscht seit Längerem die Lebens- und Leidengeschichten homosexueller Männer, die wegen Verstößen gegen Paragraf 175 des deutschen Strafgesetzbuchs juristisch verfolgt wurden. Er stellte von 1872 bis 1994 sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. 1935 verschärften die Nationalsozialisten den Paragrafen, unter anderem durch Anhebung der Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis. Darüber hinaus wurde der Tatbestand von „beischlafähnlichen“ auf sämtliche „unzüchtigen“ Handlungen ausgeweitet. Schon ein anzüglicher Blick oder einfaches Anfassen konnte da als strafrelevant gewertet werden. Insgesamt wurden etwa 140.000 Männer nach den verschiedenen Fassungen des Paragrafen 175 verurteilt.

Einer dieser Fälle ist der des masochistisch veranlagten Emil Martens. Aus den noch vorhandenen Aktenfragmenten hat Gottfried Lorenz seinen erschütternden Leidensweg nachgezeichnet: „Es war purer Zufall, dass ich auf die Verbindung von Martens zum HSV gestoßen bin. Ich habe sozusagen die Nadel im Heuhaufen gefunden, denn auf den noch vorhandenen über 100 Aktenblättern wird der Fußballverein nur drei- oder viermal erwähnt.“ Bislang fehlende Verweise auf dessen homosexuelle Neigungen beruhen also mitnichten auf schlampiger Recherche oder gar bewusstem Ignorieren. Im Gegenteil: Nach der Ausstellung „Homosexuellen-Verfolgung in Hamburg“, die von März bis Mai in der Hamburger Staats- und Unibibliothek zu sehen war, hat sofort auch das HSV-Museum im Rahmen seiner aktuellen Sonderausstellung zum HSV in der NS-Zeit die Lorenz’schen Recherchen zu diesem prominenten Fall aufgegriffen und mit fundierten eigenen Beiträgen thematisiert.

Irgendwann nach der Ablösung von Martens als HSV-Präsident gerät er ins Fadenkreuz von Polizei, Kriminalpolizei, Gestapo und Justiz. „Entweder“, so vermutet Dr. Lorenz, „ist er von einem Strichjungen, mit dem er verkehrt hat, der Kripo gegenüber erwähnt worden, oder aber er geriet bei seinen Besuchen von einschlägigen Lokalen auf St. Pauli ins Visier der Polizei. Auch die Denunziation durch Dritte ist nicht auszuschließen.“ Dass Martens Mitglied der NSDAP war, nützte ihm gar nichts. Insgesamt dreimal wird er verhaftet und verurteilt. Das Strafmaß steigt. Martens verliert seine Arbeit und wird aus der Partei ausgeschlossen. In einem gerichtsärztlichen Gutachten heißt es: „Auf Sportplätze sei er nicht mehr gegangen aus Scheu, da er soviel Sportler kannte. Er habe sehr darunter gelitten, seine Beziehungen zum Sportverein aufgeben zu müssen.“

Emil Martens
Von der Nazihaft gezeichnet:
Emil Martens Ende 1942 Foto Hamburger Staatsarchiv


Das Leben ist für den einst angesehenen Kaufmann und Vereinsführer unerträglich geworden. 1941 schluckt er Tabletten und versucht vergeblich, sich in der Alster das Leben zu nehmen. Kurz darauf folgt die dritte Verhaftung. Das Urteil ist vernichtend: ein Jahr und sechs Monate Zuchthausstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. „Ein Stigma, gleichbedeutend mit dem bürgerlichen Tod“, erklärt Lorenz. Martens wird als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ und „Risiko für die öffentliche Sicherheit“ eingestuft. Um der sicheren Deportation ins Konzentrationslager zu entgehen, bittet er Ende 1942 um „freiwillige Entmannung“. Dies ist der Moment, an dem das Foto gemacht wurde. Es zeigt ihn unmittelbar nach dem Eingriff.

Rehabilitation erfährt Emil Martens keine. Immerhin kehrt er 1949 zu seinem HSV und in den Kreis der Alten Herren zurück und ist lange Jahre im Ältestenrat tätig. Am 15. Januar 1969 stirbt er im Alter von 83 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls. Er erlebt nicht mehr, wie der Paragraf 175 liberalisiert wird. Nur knapp vier Monate nach seinem Tod beschließt die große Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, die Homosexualität unter Erwachsenen in der Bundesrepublik nicht mehr zu bestrafen.

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