FUSSBALL IM KZ
Das Tor zum Tod
Selbst in den deutschen Konzentrationslagern gab es Fußballspiele. Für die Häftlinge waren die Partien Ablenkung und Bedrohung zugleich. Von Roger Repplinger.

Fußball im KZ
Foto KZ-Gedenkstätte Dachau

 

In den Konzentrationslagern des Dritten Reiches gab es alles, was wir kennen, und alles, was wir uns nicht vorstellen können. Es gab auch Sport. Und zwar gab es „Sport“ und Sport. Typischer für ein Konzentrationslager als das, was wir gemeinhin unter Sport verstehen, war der „Sport“, den sich die SS aus dem Quälen der Häftlinge machte.

Zum Beispiel so: Eine Gruppe neuer Häftlinge kommt in einem Konzentrationslager an. Raus aus dem Viehwaggon, die Verhungerten und Verdursteten bleiben liegen. Der Proviant hat hinten und vorne nicht gereicht. Es stinkt, weil der Eimer für die Notdurft schon nach einem halben Tag voll war und die Fahrt zwei Tage dauerte. Die Häftlinge, die kreuz und quer und aufeinander gestapelt im dunklen Waggon lagen, sind geblendet. Grelles Licht, Hunde bellen, antreten.

Kaum stehen die Männer in einer Reihe, da hören sie ihrem Rücken den Befehl: „Knie beugt! Hände in den Nacken legen!“ Alle gehen in die Hocke. Das ist, wie sie später von anderen Häftlingen erfahren, der „Sachsengruß“. Sie hocken eine Viertelstunde, bis sie kein Gefühl mehr in den Beinen und Armen haben, dann schreit eine Stimme: „Auf ihr Vögel! Vorwärts – marsch, marsch!“ „Vögel“ ist eine der Anreden, die SS-Männer für Häftlinge haben. Die Häftlinge haben keine Namen, ihre Identität besteht in ihrer Nummer.

Ein baumlanger, adlernasiger SS-Unterscharführer, Lederpeitsche in der Hand, führt die Häftlinge zur Aufnahmebaracke am anderen Ende des Lagers. Es beginnt zu regnen. Die neuen Häftlinge sind ein paar Schritte gelaufen, etwas mühsam, da die Beine vom Hocken in der Kniebeuge steif geworden sind, da brüllt der SS-Mann: „Alles hinlegen!“ Der letzte Häftling ist noch nicht auf dem Boden, da brüllt der Adlernasige: „Auf – marsch, marsch!“ Der „Sport“ beginnt. Hinlegen, aufstehen, hinlegen, aufstehen. Dann müssen die Häftlinge hüpfen wie ein Frosch und dazu quaken, dann müssen sie über die nasse Erde rollen. Dann brüllt der Lange mit der Peitsche wieder: „Auf – marsch, marsch!“

Die Häftlinge haben keine Zeit zum Verschnaufen, hinlegen, aufstehen. Dazwischen Fußtritte und Peitschenhiebe für jeden, der nicht schnell genug ist. So erreichen die Neuen, kaputt, dreckig und außer Atem, die Aufnahmebaracke. Einige hat der SS-Mann so mit der Peitsche zugerichtet, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten können. Das ist „Sport“ im Konzentrationslager.

Ab Herbst 1942, als Heinrich Himmler – der Reichsführer SS ist Herr über alle Konzentrationslager – den Häftlingen die Möglichkeit einräumt, sich auch ohne Peitsche sportlich zu betätigen, gibt es Sport in den Konzentrationslagern. Dies ist, zusammen mit einem Prämiensystem für gute Arbeit, der Versuch, die Häftlinge nicht mehr sofort, sondern über einen längeren Zeitraum durch Arbeit umzubringen und dabei die Produktivität hochzuhalten. Das Dritte Reich braucht die Arbeitskraft der Häftlinge, denn die Männer, die in den Fabriken gearbeitet haben, sind an der Front, und ohne Häftlinge und Zwangsarbeiter bricht die deutsche Rüstungsproduktion zusammen.

Auch im Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg wird nun Fußball gespielt. Häftling Herbert Schemmel, Lagerschreiber und früher bei Borussia Halle und TuRa Leipzig aktiver Fußballer, sagt: „Für die meisten Gefangenen war es auf Grund ihres körperlichen Zustands aber unmöglich mitzumachen. Vielleicht 60 von 14.000 Neuengammer Häftlingen haben teilgenommen.“ Gefangene, die mit in der Hierarchie weit über ihnen stehenden „Funktionshäftlingen“ – Lagerältesten, Vorarbeitern, Kapos – in einer Mannschaft spielen, verbessern ihre Situation, indem sie den „Chefs“ Tore auflegen. Als Belohnung gibt es Brot und leichtere Arbeit. Also Leben.

Über dem Fußball liegt, wie über allem anderen im KZ, der Schatten von Gewalt und Tod. In einigen Konzentrationslagern werden „Länderspiele“ ausgetragen. Der norwegische Architekt Odd Nansen, Sohn des Polarforsches Fridtjof Nansen und Häftling des KZ Sachsenhausen, notiert unter dem Datum vom 2. Mai 1944 in seinem Tagebuch: „Jeden Sonntag sind Fußballkämpfe. Sonntag zwischen Norwegen – Tschechoslowakei und Deutschland – Polen. Norwegen gewann, Polen verlor. Diese Kämpfe werden manchmal leidenschaftlich geführt. Das Blut gerät in Wallung und es kommt vor, dass die Spieler mit den Fäusten aufeinander losgehen. Im Kampf zwischen Polen und Deutschland mussten zwei Spieler das Feld verlassen, weil sie die Fäuste gebraucht hatten, nachdem bereits zwei andere weggetragen worden waren – kampfunfähig.“

Die Polen hassen die Deutschen für das, was sie ihnen und ihrem Land angetan haben. Das gilt auch für polnische KZ-Häftlinge. Der Sieg über die deutschen Häftlinge ist wichtig für das Selbstbewusstsein der gedemütigten Polen, die der SS als Untermenschen gelten. Die Deutschen sind nicht unverwundbar, sie sind nicht unbesiegbar. Wenn man sie auf dem Fußballfeld schlagen kann, warum nicht auch auf dem Schlachtfeld? Ein Spiel zwischen Norwegen und Polen wird abgebrochen, weil die Spieler aufeinander einprügeln. Nansen schreibt ironisch: „Feiner Kampf! Gleich nebenan liegen Menschen und sterben. Sachsenhausen!“

Nansen erzählt eine Episode, er nennt sie „Sachsenhausen-Idylle“, die zeigt, wie nahe beieinander Sport und Tod sind: „Während der Fußballkampf am schlimmsten tobte, kamen zwei Gefangene, die eine Leiche auf einer Bahre trugen. Den ganzen Platz entlang, an den brüllenden Zuschauern vorbei. Plötzlich wurden auch die Träger sehr interessiert an dem Kampf. Sie setzten die Leiche hin, zündeten ihre Stummel an und begannen, dem Kampf zu folgen. Als der spannende Augenblick vorbei war, gingen sie zur Leiche zurück und setzten den Transport zum Leichenhaus fort, während von sämtlichen Lautsprechern lustige Operettenmusik ertönte.“

Sogar in Auschwitz wird gespielt. Es gibt einen Fußballplatz in Auschwitz-Birkenau, der direkt an die Krematorien grenzt. Dort spielt die SS gegen Häftlinge des Sonderkommandos, die für den Transport und das Verbrennen der Leichen zuständig sind. Auch im „Zigeuner-Familienlager“ des KZ Auschwitz rollt der Ball. Ein neuer SS-Mann, der Rapportführer Kurt Hartmann, fragt nach Fußballern. Walter Stanoski Winter und ein paar Jungs aus Ostpreußen, die in Vereinen gespielt hatten, melden sich. Winter wird Trainer. Hartmann will, dass „seine“ Jungs gewinnen, er versorgt sie mit Lebensmitteln, die er anderen Häftlingen klaut. Die Häftlinge fragen nicht – sie essen. Winter fehlt ein Rechtsaußen: „Einmal waren wir am Spielen, ein paar Juden guckten zu. Es gab nämlich einige jüdische Handwerker bei uns im Lager, in einem gesonderten Block. Da sagt einer von ihnen: ,Ich kann auch Fußball spielen.‚Äò So ein kleiner Mensch, vielleicht 1,65, 1,68 Meter groß, er hatte ein bisschen O-Beine. Na. Wir haben trainiert, und der Mann war super.“

Beim ersten Spiel trifft das „Auschwitz-Stammlager“ auf die mit einem jüdischen Rechtsaußen verstärkte Elf der Sinti. An diesem Tag schieben nur wenige SS-Männer in den Lagern des KZ Auschwitz Dienst, alle anderen schauen beim Spiel zu. Der Zaun steht ausnahmsweise nicht unter Strom. So lehnen die Lagerinsassen daran und stehen auf den Dächern der Blocks und beobachten das Spielgeschehen. Die Sinti schießen das erste Tor. Winter hat Angst: „Jetzt bricht die Hölle los!“

Die SS-Männer des Stammlagers Auschwitz und die des Lagers Birkenau sind verfeindet. Nach dem Tor schießt die Birkenauer SS. Mal nicht auf Sinti, sondern vor Freude in die Luft. In der zweiten Halbzeit machen die Sinti das 2:0. Winter denkt: „Junge, Junge, wenn du nur hier wieder heile runterkommst!“ Nach dem Spiel geraten sich die SS-Leute in die Haare. Beschimpfen und stoßen sich. Am Ende gewinnen die Sinti mit 2:1. Hartmann versorgt die kickenden Häftlinge weiterhin mit Paketen, damit sie auch das nächste Spiel gewinnen. Er wird später wegen Häftlingsbegünstigung vom SS- und Polizeigericht Breslau zu vier Monaten Gefängnis und Ausschluss aus der SS verurteilt.

Schwierig ist es, die Fußballausrüstung zu organisieren. In Neuengamme bauen die Zimmerleute unter den Gefangenen Tore für das betonierte Spielfeld, den Appellplatz. Die Schneider nähen Trikots. Aus Kleidern von in Auschwitz ermordeten Juden. Die Sattler machen aus Lederabfällen Fußbälle. Für 600 im Lager geschnorrte Zigaretten der Marke „Attika“ und 10,50 Mark besorgt ein SS-Mann drei Gummiblasen. Sonntags, wenn die Bewohner der ringsum liegenden Dörfer am KZ Neuengamme vorbeispazieren, sehen sie die Häftlinge beim Fußball. „Kann so schlimm nicht sein im KZ“, denken sie und vergessen die stinkenden, dicken Rauchwolken, die in der Woche aus dem Kamin des Krematoriums kommen.

Der Text ist in RUND #15_10_2006 erschienen.

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Sieger im Fußball, Dachau 1944

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