Thomas Hitzlsperger

Doku über homosexuelle Fussballer

 „Die Hoffnung ist, dass Fans weiter sind als die Verantwortlichen denken“

Manfred Oldenburg ist Regisseur der sehenswerten Doku „Das letzte Tabu“. Er lässt neben Thomas Hitzlsperger diejenigen Profifußballer ihre ganz persönliche Geschichte erzählen, die sich als homosexuell geoutet haben. Interview Matthias Greulich

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FUSSBALL IN ECUADOR
Wenn der Himmel die Bälle verschluckt
Dort oben, wo die Wolken die Erde berühren, wo das Atmen schwer fällt, spielen die Indios Fußball – in den Anden Ecuadors auf fast 4.000 Metern Höhe. Ein Besuch bei den Kickern der Berge. Von Roger Repplinger (Text) und Dirk Krüll (Fotos).

Indios
Spielen wie im Himmel: Die Kinder der Anden lieben Fußball


Marco fährt rechts ran und hupt. Das Hupen hätte er sich sparen können, denn die Kinder kommen schon den kleinen Weg herunter gerannt. Große braune Augen, schwarze Haare, schmutzige rote Wangen, Gummistiefel. Die Sonne lässt ein Feld in den westlichen Kordilleren gelb leuchten, der Wind heult, weil er hier nicht bleiben darf. Es gibt keine Strommasten.

Hinter den Bergen sind Berge, bis zum Horizont. Am Himmel fliegen Geier, von denen es hier so viele Arten gibt wie in anderen Ländern Schnee. Da drüben erhebt sich ein Berg der so aussieht, als sei er das Vorbild aller Berge. Über seiner Kuppe steht eine mächtige graue Rauchwolke, die langsam in den Himmel steigt. Es ist ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch steht. Die Indios warten nur darauf, dass es losgeht. Nachts rumpelt der Berg. Tagsüber wahrscheinlich auch, aber da hört man es nicht. Wegen der Autos, der Gespräche und überhaupt.

Das hier ist Ecuador, und wir befinden uns 3500 Meter über dem Meeresspiegel. Da verhält es sich mit dem Sauerstoff in der Luft so: Man bekommt als Westeuropäer eindeutig zu wenig davon. Wie konnte Reinhold Messner ohne künstlichen Sauerstoff jemals auf 8800 Meter klettern? Auf den Mount Everest?

Wegen des fehlenden Sauerstoffs hat man, wenn man zum Pinkeln hinter eine Ecke strolcht, während des Gehens noch gar kein so großes Problem. Aber sobald man stehen bleibt, fängt man an zu japsen und ist völlig außer Puste. Der Rückweg zum Auto wird lang, und man lässt sich seufzend in den Sitz fallen. Man kann sich nicht konzentrieren, die Gedanken gehen überall hin, nur nicht dorthin, wo sie hinsollen. Alles ist schwerer und gleichzeitig leichter als sonst. Das macht einen fertig.

Wir hatten eine Phase, da saßen wir im Auto und haben nur gelacht. Marco, der das Auto fuhr und in Quito auf 2800 Meter Höhe lebt, schwieg eisern, bis wir ausgelacht hatten. Wir sind nicht die ersten, die er hier durch die Gegend fährt. Er kennt das. Leute allerdings, die zu Indios wollen, die hier oben Fußball spielen, hatte er noch nicht. Indios spielen gerne Fußball, wenn auch nicht besonders gut. Sie spielen vor allem sonntags, nach der Kirche, wenn es mal nicht regnet.

Heute ist Sonntag. Die Kirche ist aus. Eines der Kinder, das da am Straßenrand steht, heißt Rosa. Sie ist elf Jahre alt, die Woche über hütet sie nach der Schule zwei Esel und ein Schaf. Wasser holt sie da unten. Rosa zeigt mit dem Finger hin. Wie weit unten? Na, ein ganzes Stück. Und die Schule? Da hinten. Andere Richtung. Wie weit hinten? Na, auch ein ganzes Stück. Auf der Schule der Gemeinde Maca-Grande lernen die Kinder zwei Sprachen: Ketschua, die Sprache der Indios, und Spanisch, die Amtssprache Ecuadors.

Julian Coloquinga ist der Vater von Rosa. Er ist 55 Jahre alt und hat sechs Kinder. Zwei Jungs, vier Mädchen. Maria hat gerade geheiratet. Sie ist 18 und versteckt sich hinter ihrem Kopftuch. Man sieht aber, dass ihre Ohren rot werden, nur weil ihr Name fällt. Julian Coloquinga baut Kartoffeln an, Zwiebeln, Saubohnen, Roggen. 40 Sack Kartoffeln erntet er. Fünf bleiben hier, 35 verkauft er. Das Essen der Armen besteht aus Papas y Papas. Kartoffeln mit Kartoffeln. Die Coloquingas gehören zu den Armen. Sie züchten Schafe und Hühner. Maria hat zwei Küken.

Die Frau von Julian Coloquinga bringt die Ernte auf den Markt nach Pujili, einer Stadt mit 2000 Einwohnern, oder nach Zumbahua oder nach Latacunga. Zu Fuß? Ja, klar, zu Fuß, immer zu Fuß, oder siehst du hier ein Auto?

Heute ist Sonntag. Was macht Julian Coloquinga am Sonntag? Wenn seine Frau auf dem Markt ist. Und er ohne Radio, Fernsehen, Bücher, Zeitungen in seiner Hütte hockt. Nein, hier gibt es keine Zeitungen. Wer sollte die Zeitung bringen? Das Lesen wäre vielleicht nicht mal das Problem. Auf dem Markt in Pujili gibt es Zeitungen, aber das interessiert Julian Coloquinga nicht.

Am Sonntag ruht er sich aus, sagt er. Er liegt in der Hütte. Trinkt ein Gläschen vom Zuckerrohrschnaps, den er in einem blauen Kanister aufbewahrt. Und was machen seine Kinder? Irgendwas. Ob wir uns seine Hütte mal anschauen wollen? Klar.

 
Wir gehen in die Hütte und sehen – nichts. Das ist eine ganz andere Form von Dunkelheit als in Westeuropa. Eine schwarze Dunkelheit. Kein Schimmer eines Autolichts, einer Straßenlampe, einer Neonwerbung. Nichts, nur Nacht, auch am Tag. Eine Dunkelheit die nie, seit es diese Hütte gibt, also seit 15 Jahren, von irgendwas erhellt wurde. Bis der Fotograf seine Lampe aufstellte. Die Indios und ihre Besucher schauen sich interessiert um. So sieht es also hier so. Julian lässt der Anblick seiner Hütte unberührt. Wahrscheinlich hat er es sich genau so vorgestellt. Der Fotograf macht seine Lampe wieder aus.

Ich kann mich nur an Stroh und Decken erinnern und einen ranzigen Geruch. Als ob sich die Bewohner der Hütte mit Fett einreiben. Die Haare zum Beispiel. Außerdem riecht es scharf nach Tier. Zehn Meerschweinchen laufen hier herum, die anderen sind gestorben. Meerschweinchen gelten, gerade unter Indios, als große Delikatesse. Weißes Fleisch, ein bisschen wie Geflügel, aber ziemlich knochig. Dazu liegt auch etwas Hund und Katze in der Luft. Zehn Hunde leben hier.

Töpfe hängen an der Wand der Hütte, schwarze Pfannen. Der Boden einer der Pfannen ist mit einer Schicht Fett bedeckt. Ein Propangas-Kocher. Wenn der Kocher an ist, sieht die Frau von Julian Coloquinga so halbwegs, was sie kocht. Auch die Eltern seine haben hier gewohnt. Weiter zurück? Coloquinga winkt ab.

Maria hat geheiratet, weil sie vom Nachbarjungen Baltazar schwanger ist. Marias Ohren glühen, als die Rede darauf kommt. Nachbarschaft heißt, dass man die Hütte, in der Baltazars Familie lebt, mit bloßem Auge gerade noch so erkennen kann. Maria geht mit Baltazar zur Schule. Der Weg zur Schule ist weit, zwei Stunden. Von acht bis 17 Uhr sind sie in der Schule. Maria steht um vier Uhr morgens auf. Kaum ist die Rede von Baltazar, da kommt er auch schon. Hat eine dicke Jacke an, den Cordhut keck auf dem Ohr, die Hände in den Taschen. Nein, mit dem Bus können Maria und Baltazar nicht zur Schule fahren. Das ist zu teuer. Der Bus kostet 30 Cent.

Armut ist in Ecuador weit verbreitet. Die meisten Armen gibt es unter Farbigen und Indios. 1,5 Millionen der 4,5 Millionen Indios Ecuadors leben in den Bergen. Die anderen in den Slums der Großstädte Quito und Guayaquil. 15 Prozent der Indios sind Analphabeten. Erst kamen die Inkas, schlugen alles kurz und klein und ermordeten die Indios. Kurz danach, im 16. Jahrhundert, kamen die Spanier ins Land, schlugen alles kurz und klein und ermordeten die Inkas und die Indios. Seitdem bilden die Indios den Bodensatz der ecuadorianischen Gesellschaft. In den Regenwäldern sind sie von den Folgen des Holzabbaus bedroht, im Urwald von den nach Öl bohrenden US-Amerikanern. Dort werden kranke und behinderte Kinder geboren, weil sich die Amerikaner nicht an die Umweltauflagen der von ihnen unterzeichneten Verträge halten. Die Indios im Regenwald sind über die Entwicklungen so aufgebracht, dass sie vor ein paar Wochen zwei Holz fällende Gringos auf die traditionelle Weise umgebracht haben. Mit Giftpfeilen. Die Farbigen haben den Fußball, um Geld zu verdienen, allerdings haben sie nur den Fußball. Es gibt kaum farbige Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Professoren. Die Indios haben nicht mal den Fußball.

In der Hütte von Julian Coloquinga leben acht, neun Personen. Alle zwei Wochen geht die Familie zum Waschen. Da unten, am Brunnen. Man muss aufpassen mit dem Waschen. Hier oben ist es kalt. Besser stinken als eine Lungenentzündung einzufangen.

Baltazar will die Schule beenden und dann auf die Universität gehen. Er will Politiker werden. Von der Fußballweltmeisterschaft hat er noch nie was gehört. Keiner hier. Aber von Hugo Chavez, dem Präsidenten Venezuelas, der versprochen hat, etwas gegen die Armut in seinem Land und für die Indios zu tun. „Hier müsste man auch etwas gegen die Armut tun“, sagt Baltazar, „wir sind arm, sehr arm. Keine Schule in der Nähe, kein Wasser, kein Strom.“ Die Armbanduhr, die Maria trägt, ist sein Hochzeitsgeschenk. Wenn das Kind kommt, holen sie die Hebamme. Wann kommt es? Maria lacht hinter ihrem Kopftuch. Keine Ahnung.

Ja ja, nickt Baltazar, er spielt auch Fußball. Alle Jungs spielen Fußball. Zum Spaß, nur zum Spaß, auf dem Platz da drüben. Einmal durchs Tal und auf der anderen Seite wieder hinauf. In Zumbahua, dem Dorf da hinten, immer weiter der Straße entlang, da wird tüchtig gespielt. Gerade am Sonntag. Wie weit hinten? Na, schon ein ganzes Stück, sagt Baltazar.

Wir fahren los. Ein weißer Fleck am Straßenrand. Marco bremst. Der weiße Fleck ist Herman. Herman ist 14, er trägt das Trikot der deutschen Nationalmannschaft. Schönes Trikot, sage ich zu ihm. Herman lacht. Ich frage ihn, ob er weiß, zu welcher Nation das Trikot gehört. „Keine Ahnung“, gesteht Herman. „Deutschland“, sage ich. „Nie gehört“, sagt Herman und schaut uns fragend an. Das Trikot hat ihm seine Mutter vom Markt in Pujili mitgebracht. Da gibt es einen Stand. Weltmeisterschaft? „Keine Ahnung“, sagt Herman. Fußball? „Klar, spiele ich“, sagt er, „jeder spielt Fußball.“

Wir nehmen Herman mit. Er führt uns zu einem Plateau kurz vor Zumbahua. Dort kicken 20 Kinder. Da sind Felsspalten, die sind so tief, dass man nicht auf ihren Grund sehen kann. Die Landschaft sieht aus, als sei sie die Kulisse eines Science-Fiction-Films. Die Jungs müssen aufpassen, dass der Ball nicht in einer der Spalten verschwindet. Links endet das Spielfeld an der Straße, rechts an einem Felsvorsprung, hinter dem eine Schwindel erregende Tiefe gähnt. Da müssen die Jungs aufpassen, sonst verschwinden sie selbst. Besser man kickt auf der anderen Seite des Platzes.

„Die besten Fußballer“, sagt Herman, „findest du in Quiroga.“ Wir fahren nach Quiroga, 3830 Meter hoch, 200 Familien, 1400 Einwohner. Nach dem Unabhängigkeitshelden und Märtyrer Don Manuel Quiroga benannt, der vor 200 Jahren in einem Verließ in Quito starb. Quiroga liegt in der Nähe des Cuicocha, dem märchenhaft schimmernden „Meerschweinchen-Kratersee“.

Nebel in Quiroga, dichter, weißer Nebel. Schmeckt nach nichts. Riecht nach nichts. Die Nebelwolken gehen übergangslos in richtige Wolken über. Man verliert den Glauben, dass über den Wolken irgendwo ein klarer, blauer Himmel ist. Mitten im Dorf der Fußballplatz. Festgebackener Sand mit einzelnen Grasbüscheln drauf. Dorfbewohner mit Hüten auf dem Kopf und schweren Straßenschuhen treten gegen einen abgeschabten Lederball. Sie stellen immer den Kleinsten ins Tor. Das ist taktisch nicht besonders schlau, aber hier geht es nicht um Taktik.

Alle rennen hinter dem Ball her und rufen. Kinder, Erwachsene, Talentierte, Untalentierte. Jeden Sonntag spielen die Indios in den Kordilleren in Ermangelung anderer Freizeitbeschäftigungen Fußball. Agustin Vega macht auch mit. Vega ist 26 und malt naive Bilder, die am Kratersee an Touristen verkauft werden. Die Formate sind klein, die Farben dick, die Frauen tragen bunte Gewänder, die Schafe sind weiß, die Wolken auch, der Himmel ist blau.

Plötzlich bricht der wolkenverhangene Himmel auf, und aus all den Wolken und dem Nebel stürzt Wasser auf Quiroga herunter. Wir rennen in die Schule. Der Regen trommelt aufs grüne Plexiglasdach. Zerbrochene Scheiben, alte Schulbänke. „Wenn es regnet, spielen wir nicht weiter“, erklärt Vega. Kann man verstehen. Wir schauen aus einem der kaputten Fenster. Es riecht betörend, schwer und süß nach Blumen. Man sieht hinunter in ein Tal. „Da drüben“, zeigt Vega mit dem Finger, „regnet es nicht.“

Miguel Angel Dacomée, der auch Fußball gespielt hat, sagt, „dass die Indios der letzte Teil der Bevölkerung Ecuadors sind“. Und dass sich das auch durch den Fußball nicht ändern wird. „Es fehlt an der Ausbildung“, erklärt er, „wir können nicht gut spielen. Wir haben kein Talent zum Fußball. Die Schwarzen haben Talent. Wir spielen nur zum Spaß.“

Auf dem Dorfplatz von Quiroga gibt es auch ein Volleyballnetz und zwei Basketballkörbe. Sie pritschen den Fußball übers Netz und werfen den Volleyball in die Reuse. Indios treiben gerne Sport. Der Platz gehört der Gemeinde. Der Regen gehört niemand. „Das hört auch wieder auf“, sagt Dacomée, „der Regen kommt und geht.“ Tatsächlich hört das Trommeln irgendwann auf, nur der Nebel und die Wolken bleiben düster und schwer über Quiroga hängen. Der Platz steht unter Wasser. „Da macht es keinen Spaß, da spielen wir nicht“, sagt José Pastuña. Bleiben wir eben in der Schule und diskutieren ein bisschen über Fußball. Dacomée kennt die ecuadorianischen Spitzenclubs Nacional und LIGA und Pastuña die besten Fußballer seines Landes: Mendez, Salas, Lara. Als die Wolken sich dunkel färben und es langsam Abend wird, gehen alle Fußballer nach Hause. „Kommt nächsten Sonntag wieder, dann spielen wir wieder“, sagt Vega, „aber erwarte nicht zu viel. Wir spielen nicht gut.“

Auf der Rückfahrt, wieder auf 4000 Meter Höhe, kommen wir an einem anderen Platz vorbei. Jedes Dorf in den Kordilleren hat einen Fußballplatz. In der Dämmerung sehen wir Kinder mit Löchern im Hemd und Badelatschen an den Füßen. Der schnellste Spieler auf dem Platz ist ein brauner Hund. Die Kinder haben die faltigen Gesichter Erwachsener. Wenn sie den Ball haben, sehen sie für einen Moment glücklich aus.

Von der Straße, die uns zurück nach Quito bringt, sehen wir in einem Tal den Fluss, der sich hier durchs Gebirge gegraben hat. Am Fluss ein paar Holzhäuser, eine Kirche, eine verlassene Wiese mit Toren. Nie habe ich so viel Fußball gesehen wie auf dieser leeren Wiese.

Als Marco anhält, damit der Fotograf die Wiese fotografieren kann, rollt ein Ball auf die Straße, auf der wir stehen, und ein Regenbogen wölbt sich über den Kordilleren. Als ob das, was da ist, nicht genug wäre. Ein kleines Mädchen rennt hinter dem Ball her und fängt ihn. Ein etwas größerer Junge rennt hinter dem Mädchen her und fängt es. Sie stellen sich auf einen Felsen unter dem Regenbogen. Und während sie so dastehen, kommt zum ersten Regenbogen ein zweiter dazu. Die Kinder stehen unter den Regenbogen und haben einen Fußball in der Hand. Weiterzufahren ist ein Fehler. Marco hupt, und da tun wir es trotzdem.

 

Indios
3800 Meter über dem Meer: Familie in Pujiil

Die Reportage ist in RUND #14_09_2006 erschienen.

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