NETZER
„Ich war doch am liebsten faul“
Durch die Firma Infront kontrollierte er Teile der Fernsehübertragungsrechte. Zusammen mit seinem Kompagnon Gerhard Delling erhielt schon den Grimmepreis für ihre Art, Fußballspiele zu kommentieren. Viele aktive Spieler schätzen seine Kommentare gering ein, dennoch zählt Günter Netzer auf mehreren Ebenen zu den einflussreichsten Menschen im deutschen Fußball. Ein RUND-Interview von Christoph Ruf.

 

Günter Netzer
Am liebsten faul: Günter Netzer war einer der besten Fußballspieler Deutschlands Foto Pixathlon


RUND: Herr Netzer, Sie haben angekündigt, dass Sie beruflich kürzer treten wollen. Ist Ihnen das gelungen?

Günter Netzer: Noch nicht so ganz. Aber seit 2007 habe ich meine Präsenz bei Infront reduziert.

RUND: Nur Ihre Präsenz?

Günter Netzer: Ich bleibe Investor dieser Firma und werde weiter meine Möglichkeiten nutzen. Aber allein zu wissen, dass ich nicht mehr muss, sondern selbst entscheiden kann, wie viel Zeit ich investiere, wäre eine Portion Freiheit.

RUND: Klingt, als ob Sie sich nicht so recht von Ihrem Beruf verabschieden mögen.
Günter Netzer: Um Gottes Willen. Ich war doch mein ganzes Leben am liebsten faul. Wenn es notwendig ist, kann ich drei Tage und drei Nächte durcharbeiten. Wenn es nicht notwendig ist, lasse ich das aber lieber. Ich glaube sogar, dass meine Frau einen größeren Horror vor meinem Ruhestand hat als ich. Dass sie denkt, jetzt würde ich von morgens bis abends hier sitzen und wisse nichts mit mir anzufangen. Davor habe ich selbst allerdings überhaupt keine Angst. Das wäre ja auch ein Armutszeugnis.

RUND: Wollen Sie denn weiterhin hier in der Schweiz leben?

Günter Netzer: Es gibt keinen Grund, etwas anderes zu tun. Allein schon weil die Schweizer den Wunsch nach Anonymität respektieren. Hier wohnen viel bekanntere Leute als ich. Tina Turner zum Beispiel, die lebt da hinten am See und geht in aller Seelenruhe über den Markt. Die Schweiz ist multikulturell, ich bin hier im Zentrum Europas und habe eine enorme Lebensqualität. Freiwillig gehen wir nicht weg.

RUND: Wenn Sie heute auf Ihre Spielerkarriere zurückblicken: Sind Sie froh, in den 70ern gespielt zu haben oder wären Sie lieber heute Profi?
Günter Netzer: Auch wenn es die heutigen Spieler nicht so recht glauben wollen: Ich war lieber in den 70ern aktiv. Übrigens sagen die großen Spieler das unabhängig voneinander übereinstimmend. Wir hätten natürlich gerne das Geld genommen, das die Spieler heute kriegen. Aber dafür kann man sich heute doch gar nicht mehr frei bewegen. Die ganzen Dummheiten, die wir gemacht haben, der Spaß, den wir hatten – das könnte man sich heute gar nicht mehr erlauben.

RUND: Gibt es Trainer, die Sie neugierig machen?
Günter Netzer: Ich war sehr gut bedient mit meinen Trainern. Hennes Weisweiler hat mich gemacht, er hat Borussia Mönchengladbach gemacht. Er hat seine Fähigkeiten mit uns allen weiterentwickelt, hat die Konfrontation gesucht, speziell mit mir.

RUND: Sie schwärmen ja richtig.
Günter Netzer: Natürlich, das war ja wirklich ein großer Mann. Und dabei war er, als er zu uns kam, ein bescheidener Trainer, der taktisch nicht besonders gut war, sondern von Emotionen getrieben war. Wie oft habe ich versucht zu argumentieren, dass man nicht nur offensiv spielen kann, dass man das Tempo variieren muss. Aber auf dem Ohr war er taub, denn mit Offensivfußball wurde sein Name verbunden. Wenn ich mir mal erlaubt habe, das Tempo zu drosseln, hatte ich schon eine persönliche Mannschaftssitzung mit ihm. Als Weisweiler kam, habe ich irgendwo auf der Position des verdeckten Linksaußens gespielt, er hat dann schnell meine Führungsfähigkeiten erkannt und mich in die Mitte gestellt. Dafür war ich auch prädestiniert. Das hat er schlauerweise sofort erkannt und mich immer wieder angetrieben.

RUND: Haben Sie selbst einmal mit dem Gedanken gespielt, Trainer zu werden?
Günter Netzer: Nein, für mich stand von jeher fest, dass ich das nicht machen will.

RUND: Überraschend bei jemandem, der so gerne Spiele analysiert.
Günter Netzer: Weisweiler und Ernst Happel konnten das auch nicht verstehen. Aber ich wollte mich nicht zum Spielball der Öffentlichkeit machen lassen. Man kann durchaus gute Arbeit liefern, verliert dann fünf Spiele hintereinander und ist draußen. Es mag ja sein, dass ich Fehler analysieren kann, aber eine Mannschaft auf ein Ziel zuzubewegen, habe ich mir nie zugetraut.

RUND: Sie werden allerdings auch als Kommentator angefeindet. Und man hat nicht den Eindruck, dass Sie daran zerbrechen.
Günter Netzer: Meine Weigerung, Trainer zu werden, hatte auch andere Gründe. Ich habe auch schon als Spieler eher organisatorische Fähigkeiten in mir gesehen, den Hang Geschäfte zu machen mit dem Fußball für mich und für andere. Das konnte ich schon immer besser als andere.

RUND: Der Fußball der 70er wird als langsam abgetan. Das muss Sie furchtbar ärgern.
Günter Netzer: Überhaupt nicht, weil diese Vergleiche unsinnig sind. Was wir gespielt haben, war in der damaligen Zeit eben das höchste Tempo. Mit den heutigen Trainingsmethoden hätten wir auch das aktuelle Tempo gehen können. Aber es gab damals verdammt gute Spieler, die von ihren Fähigkeiten teilweise besser waren als die heutigen.

RUND: Sie sind streng mit den heutigen Spielern, besonders mit Michael Ballack.
Günter Netzer: Meine Kritik ist ja nicht erst bei der WM entstanden, das sage ich ja schon, seit Ballack einen Namen hat. Er ist ein großartiger Spieler, er schießt rechts und links wie kein Zweiter, ist der beste kopfballspielende Mittelfeldspieler der Welt, er hat Fähigkeiten wie kaum ein anderer. Aber er begnügt sich damit, ein wertvolles Mitglied der Mannschaft zu sein. Dabei muss er herausragen, bestimmen.

RUND: Bisher haben ihn noch all seine Trainer als Führungsspieler gesehen.
Günter Netzer: Ich beschäftige mich vielleicht auch besonders kritisch mit Leuten, die eigentlich mehr aus ihren Fähigkeiten herausholen könnten. Nehmen Sie Andy Möller, eines der größten Talente, die Deutschland je gehabt hat, vielleicht sogar besser als Netzer und Overath. Es ist doch unbegreiflich, wie wenig letztlich bei ihm rumgekommen ist. Wir haben in Deutschland einfach zu wenige Superstars. Den Willen einer zu sein, müsste auch bei Ballack da sein. Ich kann ihn aber nicht sehen.

RUND: Haben Sie mit Ballack mal unter vier Augen gesprochen?
Günter Netzer: Nein. Irgendeine Zeitung wollte uns mal zusammenbringen, dazu waren wir eigentlich auch bereit, aber es kam nicht zustande.

RUND: Nehmen wir einmal an, Sie hätten sich bei der Torwartdiskussion klar für Lehmann oder Kahn ausgesprochen oder gar einen von beiden beleidigt – ein tagelanges Medienecho wäre die Folge gewesen.
Günter Netzer: Garantiert.

RUND: Ist es Ihnen unangenehm, dass Ihnen so viel Wichtigkeit beigemessen wird?

Günter Netzer: Ich finde mich nicht wichtig. Das ist keine Koketterie, sondern meine ehrliche Überzeugung. Ich bin kein Marktschreier, der sich jeden Morgen überlegt, wie er am nächsten Tag eine Resonanz bekommt. Es ist auch nicht meine Intention so zu tun, als wüsste ich, wo der Fußball hingeht. Die heutige Zeit, da haben Sie allerdings recht, macht eine Position wie meine wichtig. Ich sehe meine Tätigkeit aber wirklich nicht so. Ich beleidige nicht, deshalb können die Spieler übrigens auch gar nicht sauer sein. Ich bin auch persönlich dazu bereit, mit ihnen über meine Kritik zu sprechen.

RUND: Das wird wohl nicht passieren. Bei vielen Nationalspielern sind Ehemalige wie Sie, die heute als Kritiker arbeiten, das Feindbild Nummer eins.

Günter Netzer: Damit kann ich gut leben, das war auch zu unserer Zeit so. Uns jeden Fußballsachverstand abzusprechen und als Trottel darzustellen, die die Sache nicht mehr durchschauen, ist aber albern. Wenn ich an den alten Herberger denke, das war visionär. Dieser Mann war ein Genie.

RUND: Gerhard Delling würde jetzt sagen: Herr Netzer, Sie leben in der Vergangenheit.
Günter Netzer: Ich nun wirklich nicht. Diese ganzen alten Spiele habe ich innerlich längst in eine Kiste gepackt. Wenn mich die Leute daran erinnern, fühle ich mich plötzlich auch erinnert, vorher nicht.

RUND: Die Moderation mit Delling lebt nicht zuletzt von Ihren Doppelpässen. Ist es Ihnen schon einmal passiert, dass Sie sich in Rage über Ballack geredet haben und sich dann dachten: So, jetzt muss ich aber langsam wieder Herrn Delling foppen.
Günter Netzer: Nein, alles ist spontan. Das ist übrigens auch privat unsere Alltagssprache, wir bauen auch am Telefon immer wieder Scherzchen ein. Nichts ist geplant, alles ist authentisch.

RUND: Sie wollen uns aber nicht weismachen, dass Sie sich auch privat siezen.

Günter Netzer: Aber natürlich. Es gibt ja viele Menschen, die sich siezen und verdammt gute Freunde sind. So etwas gibt es, ob Sie es glauben oder nicht. Wir saßen einmal in einem Restaurant, nebenan war ein junges Pärchen. Irgendwann kam der Mann und sagte, er habe eine Viertelstunde zugehört, das sei ja genau wie im Fernsehen. Wir würden uns ja sogar siezen. Komisch, dass die Menschen das nicht für möglich halten.

RUND: „Im Fußball kehren die Spieler ihr Innerstes nach außen und präsentieren sich so, wie der Landesstil es zulässt“ – ein Netzer-Zitat. Nun haben die Brasilianer bei der WM mathematisch nüchtern und die Deutschen offensivfreudig agiert. Bleiben Sie dennoch bei diesen Aussagen von vor der WM?

Günter Netzer: Was die Brasilianer angeht, auf jeden Fall. Das war grausam und traurig. Schon die Vorbereitung, die sie in der Schweiz gemacht haben, war eine einzige Feierei, die haben nichts gearbeitet. Und dennoch: Brasilianer werden immer brasilianisch spielen. Auch wenn es diesmal uninspiriert war. Der Südamerikaner lebt sich auf dem Platz aus.

RUND: Und der Deutsche ...
Günter Netzer: ... hat nach wie vor ein Ordnungsempfinden und eine Disziplin, die notwendiger sind als je zuvor.

RUND: Sie sagten auch, afrikanische Mannschaften könnten weiter sein, wenn ihnen ihr Charakter nicht im Wege stünde.

Günter Netzer: Technisch sind sie auf sehr hohem Niveau, auch dadurch dass sie so verspielt sind. Sie lieben den Ball. Ihr Naturell spielt ihnen manchmal einen Streich, weil sie keine Disziplin gewohnt sind. Das sind alles Individualisten. Die in ein Kollektiv zu bringen, ist eine Sisyphosarbeit. Die Afrikaner haben aber unheimlich profitiert, weil sie ihre Spieler in europäische Ligen gebracht haben. Sie sind daraufhin als bessere Spieler in ihre Nationalmannschaften zurückgekommen. Sie haben jetzt nach wie vor tolle technische Fähigkeiten, sind aber taktisch besser geschult.

RUND: Gilt das auch für die Afrikaner, die in Deutschland gelandet sind? Es heißt ja, die Liga habe nach wie vor taktische Defizite gegenüber Italien oder Spanien.
Günter Netzer: Ich glaube, dass Deutschland aufgeholt hat. Die Trainer der heutigen Zeit können alles erklären, was notwendig ist. Zumindest an der Tafel. Ich weiß nicht, wie das auf dem Platz ist, wie sie an die Spieler rankommen. Das ist das entscheidende Kriterium. Die Spieler müssen es verstanden haben, ausleben. Zu meiner Zeit war das aber gravierender. Als ich 1978 in Hamburg als Manager anfing, wollte ich einen ausländischen Trainer, weil die deutschen hintendran waren. Ich wollte zunächst Rinus Michels, dann Ernst Happel, die lange in Holland und Belgien gelebt haben und ein ausgeprägtes taktisches Verständnis hatten. Happel konnte jedem Spieler erklären, was er von ihm wollte. Viererkette, Forechecking, Abseitsfalle, das alles konnte Happel erklären. Nicht mit Worten, der hat ja nicht gesprochen, und wenn er gesprochen hat, konnte man es nicht verstehen. Aber seine Übungseinheiten waren so, dass es den Spielern in Fleisch und Blut überging.

RUND: Zur Nationalmannschaft. Meinen Sie, dass Bierhoff und Sammer irgendwann zusammenarbeiten können?
Günter Netzer: Ich halte Matthias Sammer für einen erstklassigen Mann, der eine unglaubliche Akribie an den Tag legt. Ich sehe überhaupt keinen Grund, warum man mit ihm nicht zusammenarbeiten könnte. Ich habe nichts gegen unterschiedliche Meinungen, die kann man durchaus austragen und dann auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da unüberbrückbare Gegensätze gibt.

RUND: Bei der WM hatte Sammer keinen Zutritt zum Mannschaftshotel.

Günter Netzer: Wenn das stimmt, habe ich dafür keinerlei Verständnis. Das ist doch Kinderkram, oder? Wenn die Verantwortlichen glauben, dass Sammer in die Nationalmannschaft hineinregiert, täuschen sie sich, glaube ich. Ich erwarte, dass bei der Nationalmannschaft von oben nach unten Einverständnis herrscht, was die Konzepte anbetrifft. Das sollte ja wohl selbstverständlich sein.

Das Interview ist in RUND – #17_12_2006 erschienen.

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