TORGEFÄHRLICHER TORWART
Er trifft und trifft und trifft
Zum Karrierende: Rogério Ceni ist der treffsicherste Torhüter der Welt. Der Brasilianer jubelte 131-mal über eigene Tore. RUND hat sich auf die Spuren des Torjägers mit den Handschuhen begeben. Von Matthias Greulich und Luis Augusto Monaco.



Rogério Ceni
Sieger bei der Klub-WM: Rogério Ceni Illustration Bernd Schifferdecker

 

In der 42. Spielminute passierte endlich, was alle erwartet hatten. Seit Wochen hatten die Fans in Brasilien über nichts anderes diskutiert: Wann würde ihr Schlussmann aus S√£o Paulo endlich zum torgefährlichsten Torwart aller Zeiten werden? Die einen meinten, Rogério Ceni würde wie so oft vom Elfmeterpunkt treffen, andere malten sich aus, wie er einen Freistoß direkt in den Torwinkel verwandeln würde.

Das kam der Wahrheit im Mineir√£o-Stadion in Belo Horizonte am nächsten. Ceni tippte den Ball kurz an, ein Mitspieler stoppte, dann war es passiert. Wer dabei war an diesem heißen Augustabend im vergangenen Jahr, bestaunte die kühle Perfektion, mit der Ceni auch dieses Mal traf. Der Keeper hatte gegen den Cruzeiro EC sein 63. Tor erzielt und damit eins mehr als der bisherige Rekordhalter José Luis Chilavert aus Paraguay.

Nein, er habe in dem Moment nichts Besonderes gefühlt, sagte er danach. "Ich lief nur wie immer zurück ins Tor und feuerte dabei meine Mitspieler an – wir lagen doch 1:2 zurück." Dennoch ist mit diesem Tor mehr passiert, als es der nackte statistische Eintrag ins Guinnessbuch aussagen kann. "Ich wollte das Vorurteil, dass Torleute ihre Füße nicht benutzen können, widerlegen. Denn das ist eine Lüge."

Die Wahrheit ist, dass Ceni mittlerweile als bester Freistoßschütze der brasilianischen Liga gilt. Unglaublich in einem Land, in dem immer nur der Spieler mit der Nummer zehn schießen will und die Torleute selten vom Publikum geliebt werden. "Mir ist es geglückt, die Geschichtsschreibung ein wenig zu ändern", sagt Ceni ganz unbescheiden.

Diese revolutionäre Geschichte nimmt ihren Anfang mit Tel√™ Santana, dem ehemaligen Nationalcoach, der den FC S√£o Paulo 1996 trainierte. Nach jedem Training ging er mit seinem damaligen Ersatztorhüter auf den Tennisplatz, denn Ceni hatte schon im Alter von vier Jahren in seiner Heimat Pato Branco begonnen, Tennis zu spielen. Als Santana S√£o Paulo verließ, verlegte sich Ceni auf das Freistoßtraining. 80, 100, 120 Stück schoss er – nach jedem Training. Anfangs noch um die Mauer herum, wie er es bei Chilavert gesehen hatte, später auch über sie hinweg.

Es ist nicht nur die gute Schusstechnik, die Ceni zu einem so treffsicheren Freistoßschützen macht. Er kann sich leichter als ein Feldspieler in sein Gegenüber hineinversetzen. Er weiß, wie weit der Keeper aus dem Tor herauskommen wird und wie er seine Mauer zu stellen pflegt. Er hat ein Gefühl für Entfernungen und die Bewegungen von Gegenspielern in der Distanz.

Dieses Gefühl hat er beim Tennis und Volleyball geschult: Mit 16 wurde er sogar ins Auswahlteam des riesigen Bundesstaates Mato Grosso berufen, heute noch spielt er gelegentlich Beachvolleyball. Der 34-Jährige trifft nicht nur spektakulär, auch auf der Linie und in der Strafraumbeherrschung gehört er zu den momentan besten Keepern der Welt. Als S√£o Paulo 2005 die WM für Clubteams gewann, wurde er zum besten Spieler gewählt. Hinter dem großen Konkurrenten Dida, dem Keeper von Milan, war Ceni lange die Nummer zwei im Tor der Sele√ß√£o, mit der er 2002 Weltmeister wurde.

Aber anders als Dida ist der Rekordspieler des FC S√£o Paulo – über 800 Pflichtspiele hat er für den brasilianischen Club bestritten – nicht nach Europa gegangen. Als er 2001 ein Angebot vom FC Arsenal erhielt, bekam er sehr viel Ärger. 28 Tage wurde er vom Training suspendiert, weil er es gewagt hatte, vom allmächtigen Clubboss Paulo Amaral eine Gehaltserhöhung zu verlangen. "Es war eine konfuse Episode mit Arsenal, ich wollte immer in Brasilien bleiben", sagt er im Nachhinein.
Und tatsächlich, kaum jemand in der Elfmillionenmetropole glaubt, dass Ceni mit seiner Heimatliebe nur kokettiert. Als er aus der tiefsten Provinz in die Großstadt kam, hatte er lange mit Heimweh zu kämpfen, Experten bezweifelten deshalb, ob er sich trotz seiner Klasse je in Europa hätte durchsetzen können. Es wäre faszinierend gewesen, den schmallippigen Arsène Wenger bei Cenis Ausflügen in die gegnerische Hälfte zu erleben. Von seinen Torleuten verlangt der Arsenal-Coach, aktiv mitzuspielen – aber wenn einer bei jedem Freistoß in aussichtsreicher Position quer übers Feld spurtet?

Ceni schüttelt den Kopf, wenn er Zweiflern begegnet, die sein Spiel als zu risikoreich erachten. "Inzwischen steht es 68:2 für mich, die Statistik ist eindeutig", sagt der Mann der Zahlen, der mit 14 Jahren bei der Banco do Brasil ins Tor ging, weil der Bankdirektor als Keeper der Betriebssportmannschaft ausfiel.

Aus dem ersten Gegentor, als er mit den Mitspielern auf der Bank feierte und ihn Branco von Fluminense mit einem Schuss von der Mittellinie überlistete, hat er gelernt. Wenn Ceni nach seinem Schuss zurückläuft, hat er schon viele Mitspieler umgerannt. Ob bei seinen 16 Einsätzen in der Nationalelf oder bei S√£o Paulo: Es gab nur einen Trainer, der ihn nicht aufs Tor schießen ließ. Mario Sergio konnte die Jagd nach dem Weltrekord nur kurz unterbrechen, er wurde nach zwei Monaten entlassen. Rogério Ceni traf weiter.


Rogério Ceni
Miet vielfachem Talent: Rogério Ceni hält Bälle, schießt Tore und spielt Gitarre
Illustration Bernd Schifferdecker

Der Text ist in RUND #20_03_2007 erschienen.

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