FUNDSTÜCK
„Mit Fußball hatte das nichts zu tun“
Werders Bremens erster großer Auftritt im Europapokal endete mit einer üblen Treterei beim spanischen Pokalsieger Atlético Madrid. Mittendrin Tormann Heinrich Kokartis – der tragische Held dieses denkwürdigen Fußballabends. Von Uwe Wetzner

 

Werder Bremen 1961
Heini Kokartis (stehend in der Mitte) als Torhüter in Werders Pokalsiegermannschaft von 1961
Foto: Archiv Wetzner

 

Die beiden Fußball-Kulturen prallten ungebremst aufeinander. Offener Berufsfußball auf der einen, „Vertragsspielertum“ mit verschämt verdeckten Halbprofis, finanziell aufgepäppelt mit allerlei Schwarzgeldzahlungen auf der anderen Seite. Hier die Repräsentanten einer nationalen Spitzenliga, dort die Mannschaften eines immer noch in fünf Oberligen zerstückelten, entwicklungshemmenden Flickenteppichs.

Im Europapokal der Landesmeister hatten bis 1966 die südeuropäischen Klubs Real Madrid (6 Titelgewinne), Benfica Lissabon (2), Inter Mailand (2) und der AC Mailand dem Rest Westeuropas beim Kampf um die wertvollste Klubtrophäe stets dessen Zweitklassigkeit vor Augen geführt, wenn er mit einem seiner Meister überhaupt bis ins Finale vorgedrungen war. 1961 war erstmals ein Wettbewerb der Pokalsieger ausgetragen worden, den der AC Florenz mit 2:1 gegen die Glasgow Rangers gewonnen hatte. Die Schotten hatten den damaligen Stellenwert des bundesdeutschen Oberligafußballs gegen den Pokalsieger Borussia Mönchengladbach bereits im Viertelfinale in aller Deutlichkeit mit 3:0 und 8:0 verdeutlicht.

Im Jahr darauf hatte sich Werder Bremen durch den 2:0-Endspielsieg über den 1.FC Kaiserslautern für den erstmals unter Regie der Uefa ausgetragenen Pokalsieger-Wettbewerb qualifiziert. „Typisch deutsches“ Losglück – ein Freilos - sorgte für das Überstehen der ersten Runde. Im Achtelfinale hatte Werder dann den dänischen Pokalsieger Aarhus GF mit 2:0 und 3:2 aus dem Weg geräumt. Viertelfinalgegner Atlético Madrid – obwohl nur das wesentlich unscheinbarere Licht neben Real – war ein anderes Kaliber. Es war nicht unbedingt der Versuch Davids, den Goliath zur Strecke zu bringen, aber der aufschauende Respekt vor der spanischen Mannschaft war unüberhörbar und nicht zu übersehen.

Die Fußball-Kulturen unterschieden sich aber nicht nur durch die Ergebnisse, sondern auch bei der Wahl ihrer Mittel. Oder, um Ludwig Ströter, einen Autor des „Sport-Magazins“ zu Wort kommen zu lassen: „Was unsere Spieler offen und plump tun, machen die Südländer verschlagen und anmutig.“

Und mittendrin in diesem epischen Fußballdrama der „Eimsbüttler Jung“ Heinrich „Heini“ Kokartis. Ein Torhüter und als solcher ein klassischer Vertreter der ewigen Fußballweisheit, die da besagt, Keeper und Linksaußen einer Mannschaft sind von einem besonderen Schlag.

Bis 1958 hatte Kokartis zum festen Inventar des HEBC und dessen „Reinmülller“-Platz gehört, hatte dann eine Saison lang beim in die Oberliga aufgestiegenen Bergedorf 85 für Furore gesorgt, ehe ihn Trainer Georg Knöpfle im Sommer 1959 zu Werder Bremen geholt hatte. Knöpfle hatte sich daran gemacht, aus der ehemaligen „Sphinx des Nordens“, dem „Schrecken Hunderttausender Tototipper“, wie der „Spiegel“ Anfang der 1950er Jahre bissig feststellte, ein Muster an Zuverlässigkeit zu machen. Einer auf Dauer allerdings frustrierenden Zuverlässigkeit als ständiger Vizemeister hinter den ungeliebten Rothosen von der Elbe, bis zur Einführung der Bundesliga 1963 ging das so.

Auch dem am 18. Januar 1934 geborenen Kokartis blieb eine ganz spezielle Demütigung durch den großen Rivalen nicht erspart. Gerade erst in Bremen angekommen, traf er mit seiner neuen Mannschaft im Halbfinale des DFB-Pokals auf norddeutscher Ebene am Rothenbaum auf den HSV. Die Ereignisse des 5.August 1959 haben in jedem Gedächtnis, das von einer Raute im Herzen mit Sauerstoff versorgt wird, ihren angestammten Platz. Der „HSV im Torrausch“ ließ Werder mit dem Kater eines 9:1 wieder die Heimreise antreten und das „Hamburger Abendblatt“ machte sich anschließend ernste Sorgen um den Gesundheitszustand des neu-bremischen Torhüters: „Torwart Kokartis, der völlig zerknirscht auf der Bank im Umkleideraum saß, hätte einige Tore halten müssen. Doch seine Deckungsspieler bereiteten ihm ebenso große Sorgen (. . .) In einem Spiel voller Witz und Temperament, mit Spielzügen, die meisterhaft angelegt waren, die oft in einem Klein- Klein-Spiel begannen, dann mit einem plötzlichen Quer- und einem folgenden Steilpass in wenigen Aktionen die gegnerische Deckung meilenweit aufrissen und den sonst so guten Torsteher (. . .) zu einem Nervenbündel werden ließen, steigerte sich der HSV in eine Form, die alle Schönheiten des Fußballs offenbarte. Tore fielen wie reife Früchte.“ Kokartis bekam seine Nerven wieder in den Griff und entwickelte sich schnell zum Stammtorhüter Werders.

Am Abend des 17. Januar 1962 galten die Gedanken der Bremer nicht mehr dem faulen Obst der Vergangenheit, sondern dem spanischen Pokalsieger Atlético Madrid, der zum Viertelfinal-Hinspiel im Europapokal der Pokalsieger im Weserstadion antrat, das mit 30.000 Zuschauern „nicht ausverkauft“ war, wie das „Sport-Magazin“ etwas pikiert anmerkte.

„Bange machen gilt nicht“, wollte das Fachblatt allen deutschen Klubs nach dem Schlusspfiff „ins Stammbuch schreiben“, die zukünftig gegen Klubs aus Südeuropa anzutreten haben würden. Das 1:1 wurde als durch zu großen Respekt verschenkter Sieg bewertet. „Man kann es noch nicht glauben: diese vielgerühmte spanische Profimannschaft (. . . ) spielte in Bremen defensiv, wie eine Ziehharmonika. Aber die Musik war nicht toll (. . .) Dabei wurde der Einsatz noch übertrieben. Mit Haken und Tricksen versuchte man, alles zu retten.“

Doch dies war nur die Ouvertüre für die Aufführung des Rückspiels am 28. Februar, bei der den Bremern Hören und Sehen vergehen sollte. Heini Kokartis war darin für die Rolle des tragischen Helden vorgesehen. Die „ungemein kampfbetonte“ Auseinandersetzung artete schnell in eine üble Treterei aus, in der beiden Seiten sich nichts schenkten, jede auf die ihr eigene Weise. Erstes Opfer wurde Werders Piko Schütz, dessen Gegenspieler Collar ihm eine schwere Knöchelverletzung zufügte, die sich nach Spielschluss als Knöchelbruch herausstellte.

„Obgleich der Schiedsrichter die beiden Mannschaftskapitäne zu sich zitierte und dringend um eine faire Spielweise ersuchte, änderte sich nichts. Beide Mannschaften kämpften ‚ÄöSchlag um Schlag‚Äò – mit dem einen Unterschied, dass ein betroffener Spanier sein ihm angeborenes oder angelerntes schauspielerisches Talent zur ‚ÄöShow‚Äò erhob und so den Zuschauern das Zeichen zu Hexenkessel-Protestkundgebungen gab, während ein gefoulter Werderspieler sich mit deutlich sichtbaren Rachegelüsten aus dem weichen Boden erhob und dann eine gewisse Primitivität im ‚ÄöKontern‚Äò an den Tag legte“, so das „Sport-Magazin“ in einer anschaulichen Schilderung der Ereignisse. Der Kleinkrieg auf dem zerwühlten Rasen tänzelte mehrere Male am Rande des Abbruchs entlang. Mit einem Fußballspiel habe das nichts zu tun gehabt, wurde der damalige Werder-Präsident Hans Burhorn von der spanischen Sportzeitung „Marca“ zitiert, und hätte das Spiel noch länger als 90 Minuten gedauert, dann wäre die Expedition möglicherweise ohne Mannschaft in die Heimat zurückgekehrt.

An der verdienten 1:3-Niederlage ließ aber auch Werder trotz der ungewohnten Begleitumstände keinen Zweifel. Einen nicht unerheblichen Anteil am Ausscheiden trug Werders Torhüter. „Kokartis und Jones schlugen press, mit Effet zischte der Ball zum Tor. Wohl konnte Jagielski die Kugel noch berühren, aber den Führungstreffer der Spanier nicht behindern.“ Soweit das 0:1.

„Collar legte sich den Ball zum Freistoß zurecht, Kokartis, der manche ausgezeichnete Parade bot, fischte den hart und flach geschossenen Ball aus der unteren Ecke heraus, ließ ihn abprallen und Peiro knallte dann wuchtig ein.“ Soweit das 0:2.

Nicht unerwähnt bleiben darf aber auch nicht, dass Kokartis für einige fulminante Paraden den Beifall des Publikums auf offener Szene erhielt. Er selbst hat dieses Duell in Madrid später als den Höhepunkt seines Torhüter-Lebens bezeichnet. Begonnen hatte alles auf wesentlich kleinerer Flamme, als sich Heini Kokartis auf dem „Reinmüller“ zu einer der schillerndsten Figuren der hamburgischen Fußballszene seiner Zeit entwickelte.

Am 4. August ist Heinrich Kokartis im Alter von 75 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben.

Klicken Sie hier, um Teil 2 des Textes über Heinrich Kokartis zu lesen

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