INTERVIEW
Es scheint, als bräuchte man einen neuen Sündenbock
Die Choreographien in den Stadien kennt jeder, doch über die Jugendkultur der Ultras ist wenig bekannt: Der Soziologe Marcus Sommerey hat sich mit dem Phänomen intensiv beschäftigt. Interview Matthias Greulich



Ultras in Bordeaux

In den Stadien geben Ultras seit einigen Jahren in Europa den Ton an: Das Foto zeigt Fans von Girondins Bordeaux
Foto Pixathlon


RUND: Herr Sommerey, wie stark haben die Ultras die Fankultur verändert?
Marcus Sommerey: Sehr! Doch neben den Veränderungen in Bezug auf die Fankultur, ist es mindestens genauso wichtig zu erwähnen, dass eine komplett neue Jugendszene oder Jugendkultur entstanden ist. Eine Kultur wie wir sie von den Punks oder Skatern her kennen.
Die Ultras setzen sich mit den Werten ihrer Kultur sehr intensiv auseinander, stehen für diese ein und kämpfen dafür. Das gibt ihnen eine Identität und Persönlichkeit. Im modernen Fußball ist es so, dass Vereine und Verbände mit der Ultrabewegung einen Widersacher bekommen. Sie treten lautstark gegen Versitzplatzung von Stadien oder gegen die weitere Kommerzialisierung des Fußballs ein.

RUND: Ultras werden in der Öffentlichkeit gerne mal mit gewaltbereiten Hooligans gleichgesetzt. Ein Fehlurteil?
Marcus Sommerey: Das funktioniert gut für die Medien, wenn es zu Ausschreitungen kommt. Meines Erachtens handeln die Medien, insbesondere die Fernsehsender, zunehmend undifferenziert. Es wird sich nicht die Mühe gemacht, genauer hinzusehen. Wobei die Öffentlichkeit schon bemerkt hat, dass die Hooligans nicht mehr die treibende Kraft in den Stadien sind. Es scheint, als bräuchte man einen neuen Sündenbock.

RUND: Der Fanforscher Gunter A. Pilz hat aber doch den Begriff „Hooltras“ in die Debatte geworfen. Er konstruiert die Mischung aus Hooligans und Ultras. Auch das ist eine Verallgemeinerung.
Marcus Sommerey: Wenn die Ultra-Gruppierungen zahlenmäßig weiter wachsen wie bislang, kommen immer mehr Menschen mit unterschiedlichsten Einstellungen hinzu und es kommt zur Durchmischung verschiedenster Ideologien. So gelangen natürlich auch gewaltbereitere Personen in die Szene. Trotz dieser Durchmischung dürfen aber auch gruppendynamischen Prozessen nicht außer Acht gelassen werden.

RUND: Was meinen Sie damit genau?
Marcus Sommerey: Neben der Konzentration auf Einzelpersonen, wie beispielsweise den B- und C-Fans, muss das Gefahrenpotenzial auch als Gruppenprozess betrachtet werden. Die Anzahl der an Ausschreitungen oder gewalttätigen Handlungen beteiligten Personen geht häufig über die Anzahl bekannter Unruhestifter hinaus. Beispielsweise gab es bei den bei der WM 1998 in Frankreich festgenommenen Engländern zahlreiche Personen, die nie zuvor polizeiauffällig gewesen waren. Ein Gegenbeispiel zeigt aber auch, dass beim EM-Qualifikationsspiel Schottland-Deutschland 2003 trotz der Anwesenheit von fast 200 deutschen B- und C-Fans keine nennenswerten Auseinandersetzungen festzustellen waren. Es gibt sehr viele Gruppen, die sich auf Ihren Homepages von gewalttätigen Fans distanzieren. Ob dies in der Realität dann auch so umgesetzt und gelebt wird halte ich teilweise für fraglich. Ansonsten sehe ich das so wie Gunter A. Pilz: Es gibt einen Bereich der Supporters und einen Bereich der gewaltbereiteren „Hooltras“-Fans.

RUND: Welchen Einfluss hat es, dass sich Ultragruppierungen meist nach außen abschotten.
Marcus Sommerey: Immer wieder versuchen sich Gruppen, wie die „Schickeria“ aus München zu distanzieren. Das schreibt sie konsequent auf ihrer Homepage, wenn es zum Beispiel um eine Schlägerei mit Nürnberger Fans auf einem Parkplatz ging, bei der eine Frau schwer verletzt wurde. Das eigene Handeln wird jedoch nicht ausreichend hinterfragt. Es wird nicht öffentlich gemacht, dass die beteiligten Fans nicht mehr Mitglied der Schickeria sind. Das Abschotten, das unkenntlich machen von Personen auf Fotos oder ähnlichers, dient aber noch einem anderen Zweck. Die Methode der konsequenten Abschottung und Verschleierung machen die Szene für Jugendliche interessant und spannend.


Marcus Sommerey

Soziologe und Autor: Marcus Sommereyhat das Buch "Die Jugendkultur der Ultras" geschrieben.


RUND:
In Hamburg sollen nach Auseinandersetzungen mit Polizisten beim Schanzenfest Personalien von Ultras aufgenommen worden sein.
Marcus Sommerey: Man muss auch dabei genau hinschauen. Waren die Jugendlichen wirklich als Ultras unterwegs? Viele Jugendliche betreiben ein regelrechtes „Szenehopping“: Am Wochenende sind sie als Ultra im Stadion, am Montag als Skater in der Halfpipe und am Mttwoch im Computerclub, um Ego-Shooter zu spielen. Daher kann man diese Ereignisse nicht nur an einer Jugendkultur festmachen. Ich würde nicht einfach von den Jugendlichen sprechen, sondern von einer Tendenz zur stärkeren Gewaltbereitschaft, die in der Gesellschaft momentan zu erkennen ist. Die Jugendlichen wollen wieder stärker gehört werden. Sie wollen sich einmischen. Und in all ihren Aktionen sind sie erlebnisorientiert.

RUND: Das hört man häufiger.
Marcus Sommerey: Wenn man die Ultras als erlebnisorientiert bezeichnet, wird man kritisiert. Vielleicht auch zu Recht. Ausgelöst durch Individualisierungsschübe verändern sich für Jugendliche die Integrationsprozesse in die Erwachsenengesellschaft. Das Aufwachsen und Erwachsenwerden gestaltet sich schwieriger und orientierungsloser als in früheren Generationen. Beispielsweise können Jugendliche ihren Beruf unabhängiger von dem ihrer Eltern wählen, Arbeiterkinder müssen nicht unbedingt wieder Arbeiter werden. Bezogen auf Fußballfans könnte man auch sagen, dass der Fußballfan nicht mehr überwiegend aus dem Proletariat stammen muss. Diese Tendenzen führen zu einem Bedeutungszuwachs der Jugendkulturen, denn sie bietet den Jugendlichen neue Hilfestellungen bei dem gerade erwähnten Integrationsprozess. Der Anreiz, bei den Ultras mitzumachen besteht darin, etwas zu erleben, auszubrechen, sich zu beteiligen, seine Stimme zu erheben. Und möglicherweise auch etwas zu verändern oder zu verhindern.

RUND: Gegen erlebnisorientierte Fans setzt die Ordnungsmacht meist auf Repression.
Marcus Sommerey: Das Gewaltphänomen und die Repressionen sind nichts Neues. Kurz vor der WM 2006 ist jedoch ein deutlicher Anstieg freiheitsentziehender Maßnahmen und Strafverfahren zu verzeichnen gewesen. Bei der Vielzahl der Reibungspunkte zwischen allen Beteiligten auf dem Gebiet, ist jedoch besonders das ordnungspolitische Ausmaß, egal ob von Polizei oder Verein inszeniert, zu hinterfragen, mit dem den Ultras entgegengetreten wird. Es ist festzustellen, dass die Gestaltung oder das Handling von Gruppenprozessen von entscheidender Bedeutung ist, da effektives Vorgehen gewaltpräventiv wirken kann und darüber hinaus sogar Selbstregulationsprozesse innerhalb der Fangruppen freisetzt. Grundvoraussetzung hierfür ist jedoch, dass die Fans erkennen, dass Maßnahmen zu ihrem Schutz getroffen werden und nicht willkürlicher Natur sind. Wird dies fehlinterpretiert und so nicht erkannt, kann es zu einem weiteren Anstieg von Gewalt kommen.

RUND: Wie kann dem entgegengewirkt werden?
Marcus Sommerey: Wie ein effektives Vorgehen auszusehen hat, muss in Arbeitsgemeinschaften von Ultras, Fanbeauftragten, Vereinen, Verbänden und der Polizei geklärt werden. Auf diesem Gebiet lassen sich schon gute Ansätze finden, die unbedingt gefördert und fortgeführt werden müssen. Eine weitere Theorie besagt, dass das Verhalten der Polizei – gemeint ist die Anzahl an Einsatzkräften, deren Ausrüstung und wie und wo sie platziert werden – von den Fans als unangemessen – im Einzelfall sogar als gefährlich – wahrgenommen werden kann. Dies kann zu Konflikten führen. Lapidar gesagt: Heerscharen von Ordnungskräfte mit Helmen und Schlagstöcken können die Fans aggressiv machen.

RUND: Noch einmal: Sie halten ein schärferes Vorgehen deshalb für falsch?

Marcus Sommerey: In der Regel ja. Ich befürworte den Versuch des ständigen Dialogs zwischen örtlichen Ultragruppen, der Polizei und Ordnungsinstanzen sowie den Vereinen. Dabei ist das gegenseitige Erklären der Absichten und Motive des Handelns von besonderer Bedeutung. Weiterhin sollten die Fanprojekte und lokale Netzwerke gestärkt werden Was passiert, wenn man die Fans einfach aussperrt sieht man zurzeit in Italien. Hier fehlen sozialpädagogische Hintergründe komplett. Ob dieser aber der alleinige Grund für die aktuelle Lage ist darf bezweifelt werden.

RUND: Im Ausland organisieren Fans den Kartenverkauf in Eigenregie. Bei Olympique Marseille bilden sie ein eigenes Machtzentrum. Geht es bei Konflikten mit gut organisierte Fangruppen nicht auch um Einfluss im Verein?
Marcus Sommerey: Auf jeden Fall. Es geht um Einfluss aber auch um viel Geld. Ich habe mich mit einer Ultra-Gruppierung von Juventus Turin, den Drughi, beschäftigt. Die führenden Köpfe dieser Gruppe sind mittlerweile schwerreiche Leute, die sich ein eigenes Geschäftsmodell aufgebaut haben. Und dabei geht es natürlich auch um Macht. Ich denke in Deutschland steht diese Entwicklung wenn überhaupt noch am Anfang. Gibt man einzelnen Fans, Gruppen etc. zu viel Spielraum, entstehen Strukturen wie in etwa in Frankreich oder Italien.

RUND: Ein negativer Aspekt?
Marcus Sommerey: Für mich gibt es sehr sehr viele positive Aspekte der Ultrabewegung – aber ich sehe das Entstehen solcher Machtzentren sehr kritisch. Ein Wirtschaftsunternehmen, wie es die großen Klubs sind, muss die Vermarktung selber in die Hand nehmen. Transferverpflichtungen sollten nicht vorher mit den Fans abgestimmt werden. So entstehen Druckmittel, um die Vereine zu erpressen.

RUND: Wohin entwickelt sich die Jugendkultur der Ultras?
Marcus Sommerey: Welchen Weg die Ultra-Bewegung einschlägt und wie überlebensfähig sie ist, hängt von folgenden Entwicklungen ab: Schaffen es die Ultras sich eindeutiger und klarer zu positionieren? Schaffen sie es, sich von den gewaltbereiten Fans innerhalb ihrer eigenen Szene, aber auch von den Hooligans zu distanzieren? Bleiben sie also bei ihren Wurzeln, einer gewaltfreien und unpolitischen Fankurve, oder durchmischen sie sich (weiter) mit Schlägern und Rechtsradikalen? Welchen Umgangston stimmen die Verbände und Vereine in Zukunft an? Setzt man sich zusammen, so wie bei vielen Vereinen bereits geschehen, oder nimmt die Verdrängungspolitik, wie etwa die des FC Bayern München, überhand?

RUND: Viele Fragen. Gibt es auch Antworten?

Marcus Sommerey: Es lohnt sich nach Italien zu schauen, wo noch immer die Vorbilder der Ultra-Bewegung zu finden sind. Eine weitere Tendenz, die bereits deutlich zu erkennen ist, besteht darin, dass die Gewalt in unteren Ligen, wo weniger Polizei und Ordnungskräfte zu erwarten sind „stattfinden“ wird. Dort werden die Ultras versuchen, Bengalos zu zünden, was in der Bundesliga fast unmöglich ist. Ich kann mir auch vorstellen, dass Ultras, zwar nicht schwerpunktmäßig und nur vereinzelt, zum Frauenfußball gehen, oder auf andere Sportarten ausweichen. Auch die Beteiligung an Fahrten ins Ausland – hier besonders Italien – wird sich weiter großer Beliebtheit erfreuen, da hier die Kultur oftmals freier ausgelebt werden kann.


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