Fußballfotografie
Der auslösende Moment
Ähnlich, wie der Fußball sich verändert, hat sich auch der Blick auf das Geschehen entwickelt. Die Fotografen halten heute andere Momente fest als vor 30 oder vor 70 Jahren. Das liegt nicht nur an den Fortschritten der Technik oder an den Rahmenbedingungen im Stadion. Geändert hat sich vor allem, was die Betrachter sehen wollen Von René Martens und Malte Oberschelp.

Hanne Sobeck
Neben dem Pfosten: Herthas Hanne Sobeck gegen zwei Bayern-Verteidiger, Freundschaftsspiel 1932
Foto Pixathlon


New York, 13. Juli 1963. Der Fotoreporter Martin Munkácsi verfolgt ein Spiel zweier Migrantenteams, da erleidet er einen tödlichen Herzinfarkt. Ein stilechter Abgang, denn an diesem Tag starb nicht nur der Pionier des „Neuen Sehens“, das sich in den 20er-Jahren etabliert hatte, sondern auch „der Vater der Fußballfotografie“. So nennt ihn jedenfalls F. C. Gundlach, einer der renommiertesten Sammler und Kuratoren für Fotokunst in Deutschland.

Der aus Ungarn stammende Künstler lebte zwischen 1928 und 1934 in Berlin, und in dieser Zeit entstand ein berühmtes Foto, das seit dem 18. Januar auch bei einer Munkácsi-Retrospektive in New York zu sehen ist. Es zeigt einen hechtenden Keeper, der entsetzt dem ins Tor fliegenden Ball hinterher schaut. „Munkácsi konnte Fußball besser antizipieren als die anderen Fotografen seiner Zeit“, sagt Gundlach. Das war wichtig, weil zwischen Abdrücken und Auslösen der Blende damals ein bis zwei Sekunden vergingen – im digitalen Zeitalter kaum noch vorstellbar.

Knapp 45 Jahre nach Munkácsi gelingt dem Saarbrücker Fotografen Ferdi Hartung bei einem Bundesligaspiel zwischen Eintracht Frankfurt und Hertha BSC eine ähnliche Aufnahme – mit dem Unterschied, dass der Berliner Torwart den Ball abwehren kann und ihn so ablenkt, dass der direkt auf den Fotografen und damit den Betrachter zufliegt. Solche Bilder zu machen, sei heute „völlig unmöglich“, sagt Hartung, mittlerweile 76 Jahre alt. Fotografen dürfen heute nicht mehr wenige Meter neben dem Pfosten hocken, dieser Raum ist Werbereitern vorbehalten. Auch direkt hinter dem Tor ist kein Platz mehr, hier stehen riesige Reklamebanden. Erst dahinter dürfen die Fotografen sitzen, sonst wäre deren Wirkung im Fernsehen beeinträchtigt. Als sie noch freie Sicht hatten, hat Hartung knapp hinter der Torauslinie auf dem Boden liegend Fotos geschossen. „Das waren tolle Perspektiven“, sagt er.

Die Fortschritte in der Fototechnik und die Macht des Fernsehens sind wesentliche Faktoren für die Entwicklung der Fußballfotografie seit Beginn des 20. Jahrhunderts. F. C. Gundlach betont aber, das Genre habe trotz immer umfänglicherer TV-Berichterstattung keineswegs an Relevanz eingebüßt. Man stoße „in den Tageszeitungen oft auf Momente, die durch das Foto erst fixiert worden sind, auf Bewegungen, die man in der Kontinuität der Bilder gar nicht wahrnimmt“. Den Grandseigneur beeindrucken seltsam artistische Fotos, in denen für Zehntelsekunden Körperteile von Spielern miteinander verschlungen sind. Solche Impressionen sind möglich, weil man mit einer modernen Digitalkamera bis zu acht Bilder pro Sekunde schießen kann.

F.C. Gundlach

Bleibende Relevanz: F.C. Gundlach
Foto Petra Kohl

Im Mittelpunkt eines Fußballfotos stehen heute in der Regel ein oder zwei Spieler beziehungsweise, wie Ferdi Hartung es nennt, „irgendwelche dummen Zweikämpfe“. Der Rest ist nebensächlich, der Betrachter kann oft nicht einmal erahnen, wo auf dem Feld sich die Szene ungefähr abspielt. Das war in den ersten Jahrzehnten der Fußballfotografie anders. Ende der 50er-Jahre sei „aus den Aufnahmen der Raum verschwunden“, bemerkt Hans van der Meer im Vorwort zu seinem prächtigen Fotoband „Spielfeld Europa“. Unter raumhaltigen Bildern versteht der Niederländer solche, die das Spielfeld – und manchmal auch die Umgebung des Stadions – in möglichst großer Breite zeigen und einen Eindruck davon vermitteln, wie die Akteure auf dem Rasen verteilt sind. Van der Meers Kollege Walter Schmitz, 1990 für eine „Stern“-Reportage über Fanenthusiasmus in Italien vom Art Directors Club ausgezeichnet, sagt, Fußballschnappschüsse ähnelten heute ein bisschen der Theaterfotografie: „Man sieht die Aktion, aber selten das Bühnenbild, auch nicht das Publikum.“

Aus der Fußballfotografie ist das Publikum zwar noch nicht völlig verschwunden, aber es tritt nicht mehr als Masse auf. Auf Action-Bildern aus den 60er- oder 70er-Jahren sind im Hintergrund meistens hoch aufgetürmte Zuschauermengen zu sehen oder auch einmal halbleere Ränge. Heute kann ein Fotograf mit einem 500-Millimeter-Teleobjektiv eine Spielszene groß und scharf einfangen, wobei es beinahe egal ist, wie weit weg vom Geschehen er gerade hockt. Die Tiefenschärfe solcher Super-Teleobjektive ist jedoch gering, und so sieht man die Fans im Hintergrund nur verschwommen oder gar nicht. Anhand von Fotos von der 62er-WM in Chile etwa lässt sich dagegen mutmaßen, dass „Abertausende von Männern dasselbe Hutmodell aufgehabt haben“, wie Jürgen Kaube in der „FAZ“ zu einem Exponat notierte, das 2006 bei der Ausstellung „Das Spiel. Fußball-Weltmeisterschaften im Spiegel der Sportfotografie“ zu sehen war.

WM-Finale 1970

Verschiedene Hutmodelle: Pelé umbribbelt seine italienischen Gegenspieler, WM-Finale 1970
Foto Pixathlon


Sind Zuschauer auf heutigen Zeitungsbildern scharf zu sehen, dann nur in kleinen Gruppen; beliebt sind auch Transparente mit einem Kommentar zur aktuellen Situation eines Klubs. Wohl eine Konzession an TV-Sehgewohnheiten: Seitdem es für Fernsehkameras technisch möglich ist, unter Zigtausenden die Gesichter einzelner Zuschauer zu fokussieren, werden Fans ungefragt zu Übertragungselementen. Sehr selten bekommt man dagegen einen Eindruck von der Imposanz der vollbesetzten Südtribüne im Westfalenstadion; die Reichhaltigkeit der Ikonografie, die Stadien und Fans hervorbringen, bleibt dem Zeitungsleser jedenfalls verborgen. Warum gibt man ihm nicht einmal die Möglichkeit, aus dem Block heraus aufs Spielfeld zu blicken? Hans van der Meer erinnert daran, dass bis Mitte der 50er-Jahre die Fotografen ihre Bilder teilweise noch von den Rängen aus schossen.

Dass heute andere Bildmotive dominierten, habe auch mit der Architektur der modernen Arenen zu tun, sagt Klaus Sturm, der seit Anfang der 60er für die Düsseldorfer Fotoagentur Horstmüller arbeitet. „Früher lag bei Sonnenschein der ganze Platz in der Sonne“, die heutige Bauweise – die komplette Überdachung der Ränge, die ohne die Laufbahnen bis an den Spielfeldrand reichen – bringe es dagegen mit sich, dass der Rasen bei einem Bundesligaspiel am Samstag „um 16 Uhr im Schatten liegt und eine Tribünenseite in der Sonne. Die taugt dann nicht mehr als Hintergrund.“

Nicht zuletzt ändern sich die Anforderungen der Redaktionen. „Einst war das Siegtor das Nonplusultra, heute ist es wichtiger, den Trainer der Verlierermannschaft zu haben, wie er die Hände über dem Kopf zusammenschlägt“, glaubt Sturm. Den Zeitungen, auch den Qualitätsblättern, sei inzwischen das Negative wichtiger als das Positive. Wertfrei formuliert: Emotionen sind wichtiger als Leistungen. Trotzdem, sagt Walter Schmitz, der nicht nur Sport fotografiert, ihm fehle „manchmal die Sinnlichkeit. Es reicht ja auch nicht, ein weinendes Kind zu fotografieren, so ein Bild berührt nicht automatisch. Da gehört mehr dazu.“

Walter Schmitz

Fehlende Sinnlichkeit: Walter Schmitz
Foto Petra Kohl

Grundsätzlich seien „Fußballbilder sehr reduziert, sehr abständlich“, ergänzt er. Zwangsläufig, denn ein Fotograf kann nun einmal nicht aufs Spielfeld laufen. „Wer einen Menschen fotografiert, hat normalerweise Kontakt zu ihm“, aber bei einem Spieler sei das so wie „mit einem ein Formel-1-Auto“: Fängt man ein, wie ein Akteur gerade seiner Verzweiflung über eine vergebene Chance oder ein unglückliches Gegentor freien Lauf lässt, „dann weiß der ja gar nicht, dass jemand diese, überspitzt gesagt, intime Geste fotografiert“.

Hinzu kommt, dass sich Bildberichterstatter im Stadion nicht mehr frei bewegen können. Kein Wunder: Beim WM-Endspiel 1966 etwa waren 25 Fotografen vor Ort, beim Finale 2006 mehr als 350. In der Bundesliga, schätzt Klaus Sturm, sei der Andrang jetzt ungefähr zehnmal so stark wie in den Anfangsjahren. Und längst beanspruchen auch TV-Teams Platz im Innenraum. So hocken die Kollegen eng nebeneinander. Manchmal fühlen sie sich geradezu wie Wegelagerer. Noch in den 70ern hätten die Klubs Pressefotografen geradezu animiert, ihre Spieler abzulichten, weil sie hofften, dass dadurch die Stadion voll werden, aber mittlerweile sei seine Zunft nur noch geduldet, sagt Eamonn McCabe, Bildredakteur im Sportressort der englischen Tageszeitung „The Guardian“. Offensichtlich beseelt von britischen Humor, schrieb McCabe bereits 1995 in einem Vorwort für den 70er-Jahre-Fotoband „Shot!“: „Es ist leichter, über den Bosnien-Krieg zu berichten als vom Arsenal-Training.“

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