PORTRÄT
Farblose Deckenplatten

Im November 2004 riss sich Andreas Görlitz im Champions-League-Spiel gegen Juventus Turin das Kreuzband. Nach zweieinhalb Jahren Aufbautraining und fünf Knie-OPs feiert der 25-Jährige gegen Real Madrid das internationale Comeback für Bayern München. Der Weg zurück war voller Qualen.


Andi Görlitz: Ein kleines und ein großes Ohr
Fotos: F. Seidel



Als die Fans brüllen: „Görlitz du Judas! Görlitz du Sau! Zurück zum TSV!“, ist für Andreas Görlitz die Welt in Ordnung. Er sprintet, er grätscht, und manchmal flankt er den Ball so, wie ihn nur große Fußballstars flanken. Das war im Sommer vor zwei Jahren. Andi, wie ihn alle nennen, ist 22 Jahre alt und für drei Millionen Euro vom TSV 1860 zu Bayern München gewechselt. Zehntausende sehen sein Ablösespiel, das 200. Münchner Stadtderby. „Ich war mal Bayernfan. So eine Phase legt sich aber wieder“, sagte er einst als junger Löwe in die TV-Kameras. Viele Bayern-Fans haben die Aussage nicht vergessen.

Mit 16, 17 Jahren sitzt Andi oft auf dem Beifahrersitz. Wenn man zügig fährt, braucht man keine Stunde von der Wohnungstür seiner Eltern in Rott bis nach München. Um den Jungen nach der Schule pünktlich zum Training der Sechz’ger zu bringen, wechseln sich Vater Görlitz und Opa Werner täglich ab. Vater Görlitz spielte einst selbst in der Landesliga. Opa Werner fährt auf der Autobahn immer etwas langsamer. Im roten Corolla reden Enkel und Opa auch über die Weltmeisterschaft 2006.

Mit 18 darf Andi selbst Auto fahren. Er mietet eine kleine Wohnung in München und fährt nach dem Training trotzdem zurück nach Rott. Zu dieser Zeit läuft es so, wie es Väter und Großväter sich meist nur erträumen. Andi schafft das Fachabitur, wird in die Jugendauswahlteams des DFB berufen und unterschreibt den ersten Profivertrag bei 1860. Dann der Wechsel zu den Bayern, das Ablösespiel, aufgebrachte Fans und gute Aussichten.

Rund zwei Monate später folgt die Premiere in der Nationalmannschaft. Als einer der Hoffnungsträger unter Jürgen Klinsmann läuft Andi gegen Weltmeister Brasilien auf den Rasen. Im zweiten Spiel gegen den Iran macht der junge Mann mit den unauffällig gestylten Haaren, dem man erst auf dem dritten Blick ansieht, dass er ein großes und ein kleines Ohr hat, seine Sache auf der rechten Abwehrseite richtig gut. Am 3. November 2004, im Champions-League-Spiel gegen Juventus Turin, wechselt ihn Felix Magath zur Halbzeit ein. „Nach 20 Minuten sprinte ich nach hinten, will eine Flanke abblocken und mache einen langen Schritt. Auf einmal macht es peng. Du weißt es sofort, wenn etwas kaputt ist“, erinnert sich Andi.

Riss des vorderen Kreuzbands und Meniskusschaden im linken Knie. Andi denkt: Okay, fünf bis sechs Monate, dann geht’s weiter. Zusammen mit dem Fitnesscoach der Bayern fliegt er zur ersten OP nach Amerika. Die Experten setzen ein neues Band ein und nähen den Meniskus an zwei Stellen zusammen. Acht Wochen später begleitet ihn seine Freundin Marile nach Colorado. Lufthansa, erste Klasse, knapp eine Woche Aufenthalt. Diesmal schauen die Experten nur zur Kontrolle ins Knie. Alles gut. Die erste große Reha beginnt.


Gitarre als Heilmittel



Im Kraftraum der Bayern hört Andi Punkrock von Green Day und schaut auf die 50 mal 50 Zentimeter großen, farblosen Deckenplatten. Seine Muskeln wachsen schnell. Schon nach fünf Monaten stößt er wieder zur Mannschaft. Beim ersten gemeinsamen Training verdreht er sich sein Knie, wieder das linke; die Schmerzen ziehen durchs ganze Bein. Eine Naht im Meniskus ist nicht richtig zusammengewachsen. Aber dafür muss man nicht nach Colorado. Andi kommt in Augsburg bei einem anderen Experten unters Messer. Danach Reha, Green Day, die farblose Decke. Er powert wie beim ersten Aufbautraining. Aber die Schmerzen kommen wieder. Auch die zweite Naht im Meniskus hat nicht gehalten. In Augsburg entfernen die Experten bei der vierten OP nun alle Fäden und einen Teil des Meniskus. Danach Reha. Im Kraftraum der Bayern starrt er auf die Deckenplatten.

Es ist das Jahr vor der WM. Es soll doch noch alles gut werden. Im Winter lädt er seine Familie und Marile zum Urlaub auf die Seychellen ein. Der erste gemeinsame Urlaub seit seiner Kindheit: „Das war eine tolle Zeit“, sagt Andi. Danach will er unbedingt mit den Profis ins Trainingslager nach Dubai. Er schafft es. Er macht alle Übungen mit. Für einen gesunden Spieler gleicht ein Trainingslager unter Felix Magath der Hölle. Andis Knie reagiert auf die Hölle, es wird dick. Doch er beißt sich durch. Gedrängt hat ihn niemand. Heute sagt er, er hätte sich gewünscht, dass jemand sagt, es sei zu früh.

Zurück in München platzen seine Träume. Knorpelschaden. Drei Wochen passiert nichts. Er kann nicht trainieren, der Schmerz zieht durchs ganze Bein. In diesen Tagen ist Andi alles zu viel. Michael Rensing, einer seiner besten Freunde, bemerkt, dass er sich verändert hat. Zusammen haben die beiden viele Bud-Spencer-Filme geguckt. Jetzt unternehmen sie wenig gemeinsam. Andi haut ab. Er will etwas für sein Knie machen. Fahrradfahren ist gut für den Knorpel. Zusammen mit einem anderen Freund fliegt er privat für eine Woche nach Mallorca. Täglich quälen sich die beiden 70 Kilometer über die Insel. Wenn Andi vom Rad steigt, tut alles weh. Es nützt nichts. Von seiner Familie hat keiner Zeit, deshalb begleitet ihn eine Assistentin von Bayern-Arzt Müller-Wohlfahrt nach Colorado. Die Experten öffnen sein linkes Knie zum fünften Mal. Sie glätten den Knorpel. Danach Reha: Powermusik von Green Day, sein Blick haftet lange an den farblosen Deckenplatten.

Im Sommer sieht Andi die WM-Spiele im Fernseher. Sein Muskel ist auch nach der letzten OP wieder schnell gewachsen. Irgendwann während der vergangenen zwei Jahre hat er sich ein Lehrbuch gekauft. Normalerweise liest er wenig. Er sagt, er hatte zu viel Energie, trotz des Reha-Marathons musste die irgendwo hin. „Da habe ich angefangen Gitarre zu spielen.“ Er lernt alleine, nur für sich. Mit seiner Freundin Marile wohnt er heute in einem kleinen Haus vor München. Im Flur auf dem Heizkörper steht eine Grafik, ein Andenken von seinem Besuch im „Aktuellen Sportstudio“. Im Bad hängt eine weiße DIN-A4-Seite an den Fliesen. Ehrgeizig trägt er dort mit einem Filzstift morgens und abends sein Gewicht ein.

Wenn Marile von der Arbeit kommt, sitzt Andi oft im Keller. Nach der akustischen Gitarre kaufte er sich eine rote E-Gitarre. Später kam ein Schlagzeug dazu. Seit den Verletzungen spielt er fast jeden Tag in dem winzigen Raum. Ein Plakat von Status Quo hängt über den Instrumenten. Erst vor Kurzem tanzte Andi auf einem Konzert der Band in der ersten Reihe. Manchmal spielen er und sein kleiner Bruder zusammen im Keller. Wenn Andi von seiner Musik erzählt, grient er immer ein bisschen. Mit den breiten Schneidezähnen und dem runden Gesicht sieht er dann so ähnlich aus wie der Junge auf der Kinderschokoladenpackung.

Seit einigen Wochen trainiert und spielt Andi wieder mit der Mannschaft. Er sprintet, grätscht und flankt, als hätte er es immer getan. Beim Aufwärmen tunnelt er Marc van Bommel und ballt die Fäuste. „Überragend, Görlitz, überragend“, brüllt der Star der Bayern mit tiefer Stimme und holländischem Akzent. Am Rande des Trainingsplatzes stehen Fans. Sie haben den Görlitz noch nicht vergessen.

Damit er trainieren kann, muss er vor jedem Training und daheim Extraschichten schieben. Im Schlafzimmer liegt eine Matte, auf der der 25-Jährige nach dem Aufstehen und vor dem Schlafengehen sein Kniegelenk mobilisiert, um die normale Beweglichkeit herzustellen. Wenn man ihn fragt, was das Schlimmste in den vergangenen zwei Jahren war, kommt die Antwort schnell: „Der Motorradunfall von meinem Freund und der Tod von Opa Werner.“

Steffen Dobbert

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