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„Massen denken nicht, sie fühlen“
Gemeinsam mit seinem Partner Meinhard von Gerkan hat Volkwin Marg mehrere WM-Arenen in Deutschland und Südafrika gebaut. Der Hamburger Architekt über den Unterschied zwischen Klassen- und Volksstadien. Interview Daniel Theweleit

Moses-Mabhida-Stadion in Durban
Von vielen als schönste Arena der WM in Südafrika gelobt: das Moses-Mabhida-Stadion in Durban. Foto Pixathlon




RUND: Herr Marg, die neuen Arenen für die WM sind gebaut. Wird sich die Architektur des öffentlichen Raumes nun wieder dem weniger emotionalen Museums- und Flughafenbau widmen?

Volkwin Marg: Nein, das glaube ich nicht. Ritualisierte Massenveranstaltungen wie der Fußball, die von den Medien unterstützt und potenziert werden, befinden sich auf einem globalen Siegeszug. Das wird bald auch viele Länder erfassen, die das noch gar nicht so kennen. Außerdem lässt sich dieses Prinzip auch in etwas kleineren Dimensionen verwirklichen, da gibt es einen ungeheuren Nachholbedarf. Die Architekten haben weiterhin Lust, eine solche Massenchoreographie zu bauen, auch wenn die Stadien von einer großen Zweckhaftigkeit geprägt sind und keine Freiheiten lassen wie Mahnmale oder Museen, die man wie ein Astrologe deuten kann.

RUND: Die Lust am Stadionentwurf liegt demnach nicht in der Freiheit des Gestaltens sondern in der Herausforderung, Menschenmassen zu choreographieren?
Volkwin Marg: Das kann man so sagen. Menschen verhalten sich sehr unterschiedlich, je nachdem, ob sie sich als Individuen empfinden oder als Teil einer Masse. Das Individuum ist im Bezug auf andere abwägend, kritisch, zurückhaltend und durchaus rational prüfend. In der Masse wird dasselbe Individuum ganz schnell über sich selbst hinausgetragen, hinein in einen Rausch der Gefühle und der Stimmungen. Das kollektive Gemüt bricht durch, der Verstand tritt in den Hintergrund. Es ist ein elementarer Unterschied, ob ich für Einzelne inszeniere, für Gruppen oder für Massen, die sich deshalb versammeln, weil sie die Massensuggestion und die Massenemotion erfahren wollen. Genau diese mitreißende Emotion ist ein Erlebnis.


Volkwin Marg

"In uns steckt immer noch der Affe": Volkwin Marg
Foto Benne Ochs


RUND: In westlichen Gesellschaften entstehen aber immer speziellere Subkulturen, die auch im Fußballstadion ihren Ausdruck finden: Da gibt es Ultras, Familienväter mit ihren Kindern, klassische Kuttenfans, Intellektuelle, Logenbesitzer und Normalos, die ihr Wochenende hier verbringen. Ist es da überhaupt noch zeitgemäß, von einer Masse zu sprechen?
Volkwin Marg: Diese Entwicklungen gibt es. Doch gerade in einer Demokratie wie der unsrigen fühlt sich der Einzelne als Individuum häufig schwach und machtlos. Man glaubt, der eigene Einfluss wäre nicht vorhanden. Dieser Einzelne fühlt sich in einer Fußballarena unter Gleichgesinnten in der gleichen Emotion ungeheuer mächtig. Dieses Machtgefühl ist so begehrt und so aktuell wie eh und je. Die Kultur über uns ist ein hauchdünner Firnis, in uns steckt immer noch der alte Affe.

RUND: Das heißt, auch die komfortablen neuen Stadien sind vor allem als Orte attraktiv, an denen der Mensch sich seiner kulturellen Zwänge entledigen kann.
Volkwin Marg: Wenn man sich das klar macht, weiß man, dass das eine sehr ambivalente Geschichte ist. Nicht zum Spaß gibt es ein altes böhmisches Landsknechtsmotto, das sagt: Wenn die Fahnen flattern, ist der Verstand in der Trompete. Der Mensch wird im Sinne der Psychologie der Massen immer ein Schwarmwesen sein, und er wird immer gefährdet sein von der politischen, der ideologischen oder der religiösen Schwarmgeisterei verführt zu werden. Er wird immer Gruppen suchen und Gruppen folgen.

RUND: Das klingt, als sähen sie eine recht konkrete Möglichkeit des Missbrauchs in dieser Massenarchitektur.
Volkwin Marg: Das ist eine geschichtliche Tatsache. Immer hatten die Stadien eine ganz klare gesellschaftliche Funktion, in der Antike wie in der Neuzeit. Seit sich die Nationen nicht mehr royalistisch definieren, ist der Nationenwettkampf ein nationales Kräftemessen über den Sport geworden. Wenn die Nationalmannschaft verliert, sinkt das Selbstwertgefühl der Menschen, die Wettkämpfe sind politisiert. Welche politische Bedeutung die WM im kommenden Jahr haben wird, wird sich noch zeigen.

RUND: Sie sprechen da von äußerst exponierten Großereignissen. Sehen sie dieses Potenzial zur Vereinnahmung des Sports durch externe Interessen auch für ein ganz normales Fußballstadion, wie es in jeder größeren Stadt existiert?
Volkwin Marg:Nein. Ich glaube, dass die Stadien im Alltag besucht werden, weil man dort eine Identifikationsmöglichkeit findet für all das, was an Identifikationsobjekten so undeutlich geworden ist. Es gibt keine sehr präzisen religiösen Vorstellungen mehr, es gibt keine sehr präzisen ideologischen Vorstellungen mehr, es gibt auch keine präzisen Klassenbewegungen mehr. Die großen nationalen Zusammenkünfte sind ebenfalls verschwunden, jetzt erfüllen sportliche Surrogate diese Funktion. Der Fußball ist dafür ein brillantes Beispiel.

RUND: Kann man also sagen, dass gegenwärtig subversive Kräfte der Gesellschaft durch den Stadionbesuch und seinen Konsumcharakter entschärft werden?
Volkwin Marg: Das stimmt. Und wenn man jetzt das Fußballspiel nimmt, bilden die 40 bis 50.000 Zuschauer die Kulisse für die fünf Millionen vor dem Fernseher. Manchmal denke ich, dass es grotesk ist, dass die Claqueure auf den Stehplätzen im Stadion, die Kulisse fürs Fernsehen also, bezahlen müssen, während die Leute in den Logen ihre Ausgaben von der Steuer absetzen können. Das Stadion ist der öffentlichste aller Bauten und war ursprünglich immer ein Volksstadion. Da muss man sich schon fragen, warum die Öffentlichkeit jetzt Klassenstadien baut, die dazu beitragen, eine Segregation dieser angeblich so gleichen Gesellschaft herbeizuführen.

RUND: Stadien besitzen neben ihrer alltäglichen Funktion auch die Eigenschaften eines Speichermediums. Ein Schalker, der nach Mailand kommt, wird immer an den Uefa-Cup-Sieg 1997 denken, und ein Münchner wird sich in Nou Camp an das verlorene Finale von 1999 erinnert fühlen. Spielt dieser Effekt eine Rolle für die Architektur?
Volkwin Marg: Ja, das ist etwas ganz Besonderes an der Stadionarchitektur. Die Erinnerung an eine Umbebung und an Architektur ist immer durch die Tiefe einer Emotion geprägt. Sobald sich Emotionen mit Stadionbauten vermischen, bleiben die Stadien tief im Bewusstsein. Man kann nicht erwarten, dass Menschen sich an Architektur berauschen, deshalb brauchen sie das Spektakel. Ich als Architekt bin dagegen am liebsten in leeren Stadien, mich beeindruckt der Raum.

RUND: Da sind Sie nicht der einzige. Stadionführungen boomen.
Volkwin Marg: Das hat einen anderen Grund. Das ist genauso, als wenn Sie nun Schloss- oder Kathedralenführungen machen. Wenn das Interesse an einem kultischen Ort erwacht, dann will man den Ort kennen lernen. Die Fußballbegeisterung der Massen hat eindeutig religiösen Charakter. Dieses religiöse Empfinden macht die Stadien zu Ikonen. Ich habe einen Enkel, der betritt ein Stadion mit dem gleichen heiligen Schauder, mit dem ein Messdiener zu seiner ersten sakralen Handlung schreitet.

RUND: Das spektakulärste der neuen deutschen Stadien steht nun in München und wurde entworfen von ihren Kollegen Herzog und de Meuron. Die Außenhülle ist das auffälligste Merkmal dieser Arena. Warum verzichten sie auf diesen beeindruckenden Effekt.
Volkwin Marg: Das ist eine Haltungsfrage. Es geht hier um das spektakulärste Zeichen. Massen lesen nicht. Massen denken nicht. Massen fühlen. Das äußerste, was man Massen zutrauen darf, sind Zeichen. Eine Architektur, die ihre Funktion und ihre Konstruktion zeigt, die stellt intellektuelle Ansprüche wie eine gut gebaute Fugenkomposition von Johann Sebastian Bach. Das können sie einer Masse nicht zumuten. Herzog und de Meuron wandeln auf der Grenze zwischen Zeichen setzender bildender Kunst und Architektur. Für sie steht in allen Fällen ein spektakuläres Zeichen im Mittelpunkt. Alles andere ist Nebensache.


Das Interview ist in RUND #6_01_2006 erschienen.

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