INTERVIEW
„Die erfolgreichen Teams spielen mit einem Angreifer“
Die WM in Südafrika vor vier Jahren bot in der Offensive wenig Spektakuläres. Mannschaften, die mit zwei Stürmern agieren, sind zur Ausnahme geworden. England hatte mit seinem veralteten 4-4-2 gegen Deutschland keine Chance, sagt der britische Taktikexperte Jonathan Wilson im RUND-Interview.

Miroslav Klose

Einziger Stürmer im deutschen 4-2-3-1: Miroslav Klose, der gerade zum 2:0 gegen Argentinien einschiebt
Foto Pixathlon


RUND: Mister Wilson, markiert die Weltmeisterschaft einen weiteren Schritt hin zu einer immer defensiveren taktischen Ausrichtung?

Jonathan Wilson: Ja, in der Hinsicht, dass die Mannschaften zunehmend nur noch mit einem Stürmer spielen. Das 4-4-2 hat gegenüber dem 4-2-3-1 oder 4-3-3 sehr altmodisch ausgesehen, zum Beispiel beim Spiel Deutschland gegen England, als England im 4-4-2 agierte.

RUND: Warum kam England im 4-4-2 gegen die deutsche Elf nicht zurecht?
Jonathan Wilson: Sogar Michael Owen hat in seiner Kolumne für den „Telegraph“ das System verantwortlich gemacht. Er schrieb, dass es ihm als Stürmer, der einen zweiten Angreifer neben sich braucht, wehtut zu sagen, dass die Tage des 4-4-2 gegen eine gute Mannschaft gezählt sind. Das 4-4-2 macht die Angriffe für die andere Mannschaft vorhersehbar. Und sie können den Platz, der zwischen den Linien entsteht, für ihre Gegenangriffe nutzen. Spieler, die zwischen Mittelfeld und Angriff operieren, haben englischen Teams immer Probleme bereitet.

RUND: Welche waren das?
Jonathan Wilson: Laszlo Kubala, Pelé, Günter Netzer, Diego Maradona oder Rui Costa, um nur einige zu nennen. Dazu gehört auch Mesut Özil. Er hat gegen England wenig Spektakuläres gemacht, aber Räume geöffnet, in die Thomas Müller und Lukas Podolski stoßen konnten. Aus englischer Sicht war besonders frustrierend, dass Fabio Capello in der WM-Qualifikation eher ein 4-2-3-1 spielen ließ. Entweder wollte er bei der WM die Abwehr stabilieren, oder Wayne Rooney wollte sich nicht für Emile Heskey oder später Jermain Defoe ins Mittelfeld zurückfallen lassen.

RUND: In Ihrem Buch"Inverting the Pyramid", das demnächst in deutscher Übersetzung auf den Markt kommt, schreiben Sie über die Möglichkeit, dass bald ein 4-6-0 gespielt werden könnte. Gab es Spiele, in denen man einen Trend zu sechs Mittelfeldspielern erkennen konnte?
Jonathan Wilson: Nein, denn das 4-6-0 ist eine hochriskante Strategie, die großes gegenseitiges Spielverständnis erfordert. Nationalmannschaften trainieren nicht lange gemeinsam genug, um das erreichen zu können.

RUND: Arrigo Sacchi sagte im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ er möge diese WM nicht. Nationalmannschaften könnten nicht dasselbe Niveau erreichen wie die großen Vereinsmannschaften. Hat Sacchi im Hinblick auf das Turnier in Südafrika recht?
Jonathan Wilson: Absolut. Die Mannschaften, die bislang erfolgreich spielten, wie Paraguay, Uruguay, Brasilien und Deutschland haben Konstanz. Sie haben alle seit vier Jahren denselben Nationaltrainer. Spanien hat im wesentlichen seit vier Jahren denselben Spielstil und ihre Profis spielen bei zwei, drei Vereinen zusammen. Das Team von Ghana profitiert sehr davon, dass die Spieler gemeinsam in den Jugendmannschaften, bei der U20-WM und dem Afrika-Cup im letzten Jahr gespielt haben.

RUND: Gilt das auch für Argentinien und die Niederlande?
Jonathan Wilson: Nicht in dem Maße. Beide Teams spielen taktisch sehr einfachen Fußball. Die Viererkette ist fast ausschließlich fürs Verteidigen zuständig, die Verteidiger schalten sich kaum in die Offensive ein. Dazu kommt ein Abräumer im Fall von Argentinien und zwei bei den Holländern. Die Niederländer haben vier Offensive, die Argentinier drei. Argentinien verbindet die beiden Blöcke mit zwei Spielern: Maxi Rodriguez, Sebastián Verón oder Angel Di Maria. Die Niederlande operiert mit langen Pässen von Nigel De Jong oder Mark van Bommel. Das ist beinahe vorgefertigter Fußball. Einfache Blöcke, im Gegensatz zu komplexen Positionswechseln, wie etwa bei Brasilien.

RUND: Diego Maradona verlässt sich also weniger auf taktische Finessen als auf seine hervorragenden Einzelspieler.
Jonathan Wilson: Genau. Maradona scheint erkannt zu haben, dass er mit Offensivverteidigern seiner Mannschaft die individuelle Stärke nimmt. Er könnte auf Carlos Bilardo gehört haben. Wenn er das tut, ist er ist schlauer als man es ihm zugestehen will. Bilardo wurde 1986 mit einer argentischen Elf Weltmeister, von denen sieben Spieler verteidigt haben. Nur Jorge Valdano, Jorge Burruchaga und natürlich Maradona griffen an. Wenn Gabriel Heinze und Gutiérrez oder Burdisso helfen, eine solide Absicherung zu bilden, könnte es mit Di María, Higuaín, Carlos Tevez und natürlich Lionel Messi wieder gelingen.

RUND: Wie sehr hat Sie Brasilien taktisch beeinduckt?
Jonathan Wilson: Der Sieg Brasiliens über Chile war eine taktische Meisterleistung und zeigt warum Dungas Mannschaft so schwer zu schlagen ist. Chile ist ein aggressives Team, das gerne im Pressing agiert. Brasilien zieht sich zurück, um dann zu pressen. Das hat den Vorteil, dass sie ausreichend Platz für ihre Konter nach Balleroberung haben. So fiel auch das zweite Tor gegen Chile durch Robinho. Sie spielen es perfekt.
Interview Matthias Greulich

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