FUNDSTÜCK
„Er will den Himmel berühren"
In Talcahuano wurde der Fallrückzieher erfunden. Danach begann eine große Vereinsgeschichte im chilenischen Fußball, die bis die 50er Jahre hielt. Aber bei aktuellen Misserfolgen spendet der Fallrückzieher immer noch Trost. Von Martin Kaluza

Fallrückzieher

Das Meisterteam von Naval Talcahuano: Auf diesem Zeitungsfoto aus dem Jahre 1951 hält Sergio "Socke" Gonzáles den Ball in den Händen Foto Benne Ochs


Sergio González wird die „Socke“ genannt. In den 50er Jahren war González chilenischer Nationalspieler, und einmal war er sogar chilenischer Torschützenkönig mit 35 Treffern in 21 Spielen. Heute ist Socke 78 Jahre alt und schreibt Fußballberichte für die lokale Presse. González weiß viel über Chiles Fußballgeschichte, und einen der Größten hat er noch persönlich kennen gelernt: Ramón Unzaga Asla.

Das ist der Mann, da sind sich alle Chilenen einig, der den Fallrückzieher erfand. Im Jahr 1914 soll es gewesen sein, als Ramón Unzaga in Talcahuano erstmals mit dem Rücken zum Ball stand, in die Luft sprang und zu dem spektakulären Überkopfschuss ansetzte, der schließlich durch beharrliche Wiederholung zu seinem Markenzeichen werden sollte. „Er will den Himmel berühren,“ sagten damals die Fans über den gebürtigen Spanier. Unzaga spielte beim Verein Estrella del Mar („Seestern“) Talcahuano. Der Sandplatz, auf dem Unzaga seine Kunststückchen vorführte, wurde in den 40er Jahren zum Stadion „El Morro“ ausgebaut, in dem Naval Talcahuano, der Nachfolgeverein, heute noch spielt. Auch Socke spielte einst bei Naval, das nicht zuletzt durch Unzaga zu einer großen Nummer in Chiles Fußball wurde.

1951 zum Beispiel wurde Naval Regionalmeister. Damals war in Chile selbst die erste Liga noch in drei Regionalligen unterteilt, um in dem 5000 Kilometer langen Land nicht nur Reisekosten zu sparen, sondern überhaupt im Wochenrhythmus spielen zu können. Auf dem Mannschaftsfoto, gefunden auf einem wuseligen Flohmarkt in Santiago de Chile, ist „Socke“ González zu sehen; er ist der Dritte von rechts, mit den Händen am Ball. Bis heute nimmt der ehemalige Marineklub und heutige Zweitligist für sich in Anspruch, die meisten Nationalspieler in der Geschichte des Andenstaates gestellt zu haben. So war es die komplette Mannschaft von Naval, die Chile bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki vertrat. Mit Socke, der für Talcahuano auch gegen Austria Wien und den FC Santos spielte.

Aber was ist das gegen die Erfindung des Fallrückziehers. Sofern man überhaupt jemandem zugestehen mag, das Kunststück erfunden zu haben, ist bei Talcahuano dieses Eigenlob gar nicht zu weit hergeholt. Immerhin heißt der Fallrückzieher fast im gesamten spanischsprachigen Raum „la chilena“.

Darüber, wie der Fallrückzieher zu diesem Namen kam, gibt es verschiedene Geschichten. Eine geht so: Staunende argentinische Reporter verliehen ihm den Namen, als Unzaga ihn 1920 während des Südamerika-Pokals in Valparaíso erstmals vor internationalem Publikum vorführte. Eine andere geht so: Der Fallrückzieher sprach sich zunächst in Chile herum und wurde bald von David Arellano perfektioniert, dem Kapitän und Mitbegründer des heute noch erstklassigen Hauptstadtclubs Colo Colo. Als sein Klub 1927 zu einer Tournee nach Spanien reiste, führte der Stürmer den Fallrückzieher erstmals vor europäischem Publikum vor, und entzückte spanische Reporter verliehen dem Kunststück den Namen „la chilena“. Auch wenn diese Version stimmt, hatte Arellano nicht mehr viel von seinem Ruhm: Noch im selben Jahr stieß er in Valladolid bei einem Kopfball so unglücklich mit einem Verteidiger zusammen, dass er seinen Verletzungen wenig später erlag. Heute trägt das Stadion von Colo Colo seinen Namen. Eine dritte Variante geht so: Francisco Arellano, Davids Bruder, der beim selben Verein spielte, habe den Fallrückzieher 1930 während der ersten Weltmeisterschaft in Uruguay vorgeführt, wo das Publikum, ebenfalls staunend, auf den Namen „la chilena“ gekommen sei.

„Socke“ González glaubt an die zweite Version: Dass es nämlich David Unzaga selbst war, der den Fallrückzieher bei einem Länderspiel in Spanien vorgeführt und zur „chilena“ gemacht hat: „Hier bei uns kannten das ja schon alle.“ „Socke“ lässt durchblicken, dass Unzaga zwar ein berühmter Mann war, von diesem Ruhm aber nicht leben konnte. Nach seiner Karriere als Fußballstar und Fallrückziehererfinder tat Unzaga das, was er schon zuvor getan hatte: Er arbeitete an den Docks im Hafen von Talcahuano. Für „Socke“ González ein klarer Fall: „Als junger Spieler musst du gut Fußball spielen und Geld zur Seite legen. Dabei hilft dir aber jeder noch so schöne Fallrückzieher nicht.“

Aber immer wenn bei internationalen Turnieren ein chilenischer Spieler zum Fallrückzieher ansetzt, spendet das ein wenig Trost, wenn das Land letztlich doch wieder gegen übermächtige Rivalen den Kürzeren zieht: „Mögen die Brasilianer auch ganz gut Fußball spielen“, heißt es dan auf der Tribüne, „den Fallrückzieher haben sie sich bei uns abgeguckt.“


Der Text ist in RUND #2_09_2005 erschienen.

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