INTERVIEW
„Für einen Business-Seat mehr“
Es hat sich eine Menge Frust angestaut: Mit seinen Freunden saß St. Pauli-Fan Florian Lienkamp jahrelang in der „nullten“ Reihe auf der alten Haupttribüne ganz dicht am Spielfeldrand. Mit dem Neubau der Business-Seats wurden sie zu Saisonbeginn an den Rand gedrängt. Mit ihrem Slogan „Bring Back St. Pauli“ sprechen die Sozialromantiker Sankt Pauli Fans wie Lienkamp aus der Seele. Interview Natalie Ben-Shimon

Sozialromantiker

Protest der Sozialromantiker: Die Fans fordern einen Rückbau von Business-Seats. Foto Pixathlon



RUND: Herr Lienkamp, seit wann gehen Sie zum Millerntor?

Florian Lienkamp: Ich bin seit 1985 Dauerkarteninhaber und stand jahrelang in der Gegengerade. Vor sechs Jahren erlitt ich eine schwerwiegendere Handballverletzung und entschied mich, Sitzplatzkarten auf der Haupttribüne zu kaufen. Mit der Zeit wurde unsere Gruppe in der „nullten“ Reihe immer größer. Die Plätze waren mittig direkt am Spielfeldrand und somit auch günstiger, da die gesamte Spielübersicht nicht gegeben war. Hier wurde das berühmte Klischee, für das St. Pauli steht, „arm und reich trifft sich auf der Haupttribüne“ gelebt. Es gab keine Zwei-Klassengesellschaft. Das Gemeinschaftsgefühl ist in den Vordergrund gerückt. Der Wille, gemeinsam das eigene Team nach vorne treiben.

Mit dem Bau der neuen Haupttribüne wurden Sie von Ihren Plätzen vertrieben, in der Mitte sind nun Business-Seats gebaut. Sie müssen außen sitzen. Ist das für Sie nachzuvollziehbar?
Florian Lienkamp: Business-Seats und VIP-Plätze sind heute gang und gäbe, jedoch sollte man aufpassen, nicht den eigenen Verein, die Werte, für die St. Pauli steht, zu verkaufen. St. Pauli bringt endlich das Geld auf, eine neue Haupttribüne zu bauen, die mit 4.500 Plätzen bestückt ist, aber allein 1.700 davon sind Business-Seats. Und anstatt diese über die gesamte Breite, oben liegend, anzuordnen, wird ein Business-Mittelblock erzeugt, die Stammfans an den Rand gedrängt. Eine Maßnahme, die so für mich in der Form nicht nachzuvollziehen ist. In der Realität sieht es jetzt so aus, dass einige der Business-Seats wegen des hohen Preises nicht verkauft werden und die Stimmung auf der Haupttribühne wieder auf dem Nullpunkt angelangt ist. Andere Fans stehen für ihre Tickets stundenlang in der Kälte, um sich überhaupt ein Heimspiel ihrer Mannschaft angucken zu können. Hier stimmt das Verhältnis nicht. Der FC St. Pauli muss aufpassen, sozialverträglich zu bleiben.

RUND: Als der Verkauf für die Dauerkarten diese Saison startete, standen einige Fans stundenlang Schlange, um eine begehrte Karte zu ergattern. Sie auch?
Florian Lienkamp: Eine weitere Enttäuschung bot sich mir bei dem Kauf meiner Dauerkarte. Im Vorfeld der Umsetzung zur Nordkurve sowie zur Rücksetzung in die Haupttribühne stand ich in engem Kontakt mit dem Kartencenter. Die von ihnen getroffenen Aussage, dass die „alten“ Dauerkartenbesitzer die Ersten seien, die auf die noch zur Verfügung stehenden Plätze zugreifen können, hat sich als falsch herausgestellt. Meine Gruppe war in der Warteschlange an dritter Position, ich konnte verfolgen, welche Plätze von den vorherigen Gruppen gebucht wurden und musste doch feststellen, dass etliche „gute“ Plätze bereits verkauft waren, was eine Platzierung unserer Gruppe im gewünschten Bereich unmöglich machte.

RUND: Haben Sie das moniert?
Florian Lienkamp: Auf Nachfrage erklärte mir ein Mitarbeiter beim ersten Heimspiel, dass in der 1. Liga viele Plätze an Schiedsrichter, Gastmannschaften, Presse und ähnliche vergeben werden mussten und daher die Plätze zu dem Zeitpunkt bereits verkauft waren. Anhand der immensen Anzahl und der Anordnung der belegten Plätze können wir uns allerdings nicht vorstellen, dass dies die einzigen Gründe für die Belegung waren. Es schmerzt zu sehen, wie sich der Verein anscheinend immer mehr von seinen treuen Fans verabschiedet.
 

Florian LienkampDauerkarteninhaber seit 1985: Florian Lienkamp ging schon zu Oberligazeiten ans Millerntor. Foto Matthias Greulich

 


RUND: Wieviel teurer sind die Karten seit dem Bundesligaaufstieg geworden?
Florian Lienkamp: Hier muss man St. Pauli zunächst in großes Lob aussprechen. Die meisten Tickets haben sich um 10 Prozent verteuert – das ist nachvollziehbar, wenn die Mannschaft in die Erste Liga aufsteigt. Unsere ehemaligen Plätze allerdings sind im Preis um knapp 80 Prozent gestiegen – und das bei schlechterer Platzierung!

RUND: Die Sozialromantiker sind eine Gegenbewegung zur steigenden Kommerzialisierung im Stadion. Beim Heimspiel gegen Freiburg wurde deutlich, dass viele Fans hinter dieser Aktion stehen. Sie auch?
Florian Lienkamp: Die Sozialromantiker sprechen das aus, was die meisten Fans denken. Ich habe meinen Protest im Vorwege auf E-Mails an den Verein beschränkt. Die Antworten erhielt ich aber meist in Form von Standardmails, ein telefonischer Kontakt war ebenfalls nicht möglich. Deswegen freut es mich umso mehr, dass die Sozialromantiker meinen Protest nach Außen tragen. Es ist schön zu sehen, wie viele Menschen hinter dieser Aktion stehen, das Stadion war rot getränkt. Auch unsere Gruppe hat eine große Blockfahne gebastelt. Spätestens jetzt sollte jedem klar sein, dass es so nicht weiter geht.‚Ä®

RUND: Was muss sich ändern?
Florian Lienkamp: Die Fans sind der Verein, das sollte auch St. Pauli nicht aus den Augen verlieren. 90 Prozent der Zuschauer kommen ins Stadion, um sich ihre Mannschaft anzugucken, um sie voran zu treiben, um gemeinsam das Beste zu geben. Ob St. Pauli nun gewinnt oder verliert, steht für die meisten nicht unbedingt an erster Stelle. Ich habe nicht den Anspruch an die Mannschaft, dauerhaft in der Bundesliga zu spielen. Das Erlebnis Bundesliga sollte als Abenteuer angesehen werden, um die „Großen“ ein bisschen zu ärgern, ihnen zu zeigen, dass man auch ohne große Investitionen in der Bundesliga überleben kann. Wenn St. Pauli später mal wieder in der Zweiten Liga oder Regionalliga spielen sollte, wäre das auch okay. Ein dauerhafter Verbleib in der Ersten Liga natürlich traumhaft.

RUND: Mit Verlaub, kann der Verein in der Ersten Liga spielen, ohne neue Einnahmemöglichkeiten zu erschließen?

Florian Lienkamp: Niemand sagt, dass keine neuen Gelder generiert werden müssen, um in der Bundesliga zu bestehen. Allerdings schaffen das auch andere Vereine, wie zum Beispiel Freiburg, ohne sich, bzw. den Verein zwangsläufig verkaufen zu müssen. Langfristig sollte die Jugendarbeit beim FC St. Pauli eine tragende Säule darstellen. Hier wird schon gute Arbeit geleistet, da muss man dranbleiben.

RUND: Und wenn das nicht passiert?
Florian Lienkamp: Es gibt schon krasse Fälle: Ich hörte von einem 75-jährigen Mann, dessen Vater schon auf dem gleichen Platz wie er saß. Er wurde durch den Umbau der Haupttribüne von seinem Platz vertrieben. Man kann leider gerade direkt miterleben, wie sich der Verein von Traditionen und Werten verabschiedet. So etwas macht mich traurig und wütend. Wenn der Verein nicht endlich aufwacht, sind die Zeiten des „etwas anderen Vereins“ endgültig vorbei und auch ich werde meine Zeiten als Dauerkartenbesitzer beenden. Dann kann der Klub einen Business-Seat mehr verkaufen ...

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