INTERVIEW
„Es gibt Spielertypen da sträuben sich mir die Haare“
Bundestrainer Joachim Löw erklärt, worauf es im modernen Fußball  ankommt und warum die Zeit der „Aggressive Leader" auf höchstem Niveau gezählt sind. Ein Auszug aus dem Buch „Die Fußball-Nationalmannschaft. Auf der Spur zum Erfolg“. Interview Roger Repplinger

 

Joachim Löw

„Wir erobern den Ball gut, wenn wir kompakt stehen“: Joachim Löw über eines der Erfolgsrezepte seiner Elf beim grandiosen Sieg gegen Argentinien bei der WM Foto Pixathlon

 

 

Buch Nationalelf

Ein Auszug aus dem Buch  „Die Fußball-Nationalmannschaft. Auf der Spur zum Erfolg" vom Matthias Greulich (Hg.) und Sven Simon. 176 Seiten, 19,90 Euro, Copress Verlag. ISBN 978-3-7679-1048-5

 

 


Herr Löw, als Sie bei der Nationalmannschaft Raumdeckung und Offensivspiel eingeführt haben, warteten die Spieler darauf, dass sich etwas ändert?
Zuerst mal muss man sagen, dass die Manndeckersituation schon vorher etwas aufgelöst wurde. Schon unter Rudi Völler war die Mannschaft auf einem guten Weg, trotz des Einbruchs 2004. Seit 2002, 2003 wurde daran gearbeitet, ein besseres Offensivspiel zu zeigen.

 

Wie sah die Bestandsaufnahme aus?
Jürgen Klinsmann und ich, wir haben uns vor allem mit den Spielen der EM 2004 beschäftigt. Wir haben dann für uns ein Konzept erstellt: Was wollen wir verbessern, verändern, optimieren? Es war für uns beide klar, dass eine Zeit der neuen Wege anbrechen sollte, Jürgen hat damals ja auch sehr viele Ideen aus den USA mitgebracht. Seine Ideen, etwa den Einsatz mehrerer Fitnesstrainer, die eine Mannschaft betreuen, mit etwas anderen Methoden, als man sie hier kennt, und einen Sportpsychologen hinzuzunehmen, waren bahnbrechend.

 

Und fußballerisch?
Da war die Frage: Was wollen wir eigentlich für eine Spielweise sehen? Wofür stehen wir beide als Trainer? So ist eine Konzeption entstanden. Wir haben gesagt, es gibt einige klare Vorgaben, und außerdem haben wir gesagt, wir wollen konsequent alte Pfade verlassen. Auch wenn das auf Schwierigkeiten stoßen wird.

 

Im Grund gilt diese Konzeption auch jetzt noch?
Das ist so.

 

Die Spieler haben gemerkt, dass die anderen Nationen taktisch weiter waren.
Es war kein so ganz einfacher Prozess. Die Spieler waren allerdings froh über neue Trainingsinhalte, neue Reize in allen Bereichen, auch im taktischen Bereich. Die Spieler waren bereit, diese Konzeption mitzutragen. Die ist von uns aber auch sehr transparent gemacht worden. Die Spieler wussten, was auf sie zukommt. Aber wir mussten auch Rückschläge hinnehmen.

 

Was war und ist das Konzept?
Die Raumaufteilung, so möchte ich das jetzt mal nennen, ist im heutigen Fußball wichtiger denn je, vor allem in der Offensive. Es geht darum, den kompletten Platz und die Räume zu besetzen. Wir wollen nicht, dass wir uns nur auf den Gegner einstellen und reagieren. Wenn ich den Mann decke, bin ich in einer Situation, in der ich nur reagieren kann. Von der Reaktion in die Aktion gehen, das war unser Ansinnen. Wir wollten eine Mannschaft sein, die agiert, das Spiel fußballerisch beherrscht, die Spielkultur besitzt, die dem Gegner mit ihrer Spielweise Schwierigkeiten bereitet. Natürlich ist auch heute noch die Passkultur verbesserungsfähig.

 

Reagieren kann auch erfolgreich sein.
Kann es. Siehe die Italiener. Die sagen: Wir verteidigen gut, überlassen dem Gegner das Spiel, reagieren auf das, was kommt, uns wird vielleicht ein Tor gelingen und dann gewinnen wir 1:0. Ich glaube jedoch, dass sich der Fußball in den vergangenen Jahren verändert hat, dass nur Mannschaften, die fußballerisch gut sind, zur Weltspitze gehören werden.

 

Die Tatsache, dass in der Bundesliga, vielleicht auch ausgelöst durch die Nationalmannschaft, Dortmund, Mainz, Hannover, Leverkusen, in der Saison 2010/2011 offensiv spielen, hilft Ihnen das, bei der Nationalmannschaft?
Was uns hilft, ist, dass junge Spieler regelmäßig spielen, das Vertrauen der Vereine, der Trainer in junge Spieler größer geworden ist. Bei diesen Trainern merkt man auch, dass sie konzeptionell arbeiten, nicht nur Spieler kaufen, und die Jungen auf die Wartebank schieben. Diese Trainer sagen: Wir arbeiten mit jungen Spielern und gehen damit auch ein gewisses Risiko ein, wenn wir 18-, 19-jährige Spieler bringen.

 

Und die Spielweise?
Wir haben uns davon verabschiedet, darauf zu schauen, wie die Bundesliga spielt. Offensiv oder defensiv. Wenn wir uns mit den Spielern getroffen haben und sie gefragt hätten: Wie interpretiert ihr die Viererkette, wie das Offensivspiel, wie trainiert ihr das?, dann hätten wir viele unterschiedliche Dinge gehört. Deshalb haben wir das nicht gemacht. Vielmehr haben wir uns als Trainerteam auf einen Weg fest gelegt. Ich freue mich, wenn ich sehe, dass offensiv gespielt wird, aber ich überlege nicht: Wer spielt wie?

 

Sie haben eigene Vorstellungen?
Ja. Wir sind Trainer der Nationalmannschaft, wir haben eigene Vorgaben. Ich sage zu den Spielern: Das, was wir wollen, das müsst ihr umsetzen – unabhängig davon, wie ihr zu Hause spielt. Wenn ihr im Verein andere Aufgaben habt, müsst ihr euch vom ersten Tag an bei uns umstellen. Dass das einige Zeit dauert, ist uns klar. Nach und nach haben die Spieler unser Konzept jedoch verstanden, gelernt, es zu interpretieren, umzusetzen. Heute ist es so, dass ich am ersten Tag sage: Ihr wisst, welche Grundsätze wir verfolgen, was wir hier auf dem Trainingsplatz sehen wollen. Ich will die und die Pässe sehen, die und die Raumaufteilung, ich will dies und das sehen. wer das nicht umsetzt, der hat bei uns Schwierigkeiten.

 

Defensivverhalten einer offensiv ausgerichteten Mannschaft im Mittelfeld heißt: keine Grätschen, keine Fouls.
Es gibt dafür bei uns ein fast grundsätzliches Verbot. Es gibt immer mal Ausnahmen, Situationen, in denen ich ein taktisches Foul akzeptieren muss. Es gibt allerdings Spieler in der Bundesliga, die so ausgebildet sind, dass sie das Spiel des Gegners durch Fouls unterbinden, ohne sich einen Vorteil zu verschaffen. Das Zweikampfverhalten ist häufig nicht gut, weil dadurch nur dem Gegner ein Vorteil verschafft wird.

 

Wie sind gute Mannschaften in Schwierigkeiten zu bringen?
Wenn sie den Ball in der Vorwärtsbewegung verlieren, unorganisert sind. Deshalb muss man den Ball erobern und blitzartig umschalten.

 

Balleroberungen sind enorm wichtig?
Ja – siehe unser WM-Spiel gegen Argentinien. Die Mannschaft war offen, aber nicht, weil wir Messi nur durch Fouls gestoppt haben, sondern weil wir ihm den Ball abnehmen oder den Pass abfangen konnten. Deshalb haben wir gegen Argentinien viele Räume bekommen. Bei der unmittelbaren, schnellen Balleroberung müssen wir uns verbessern. Wir erobern den Ball gut, wenn wir kompakt stehen. Das haben wir bei der WM am besten gemacht. Aber nach eigenem Ballverlust sofort nach zusetzen und den Ball zu gewinnen, das machen die Spanier gut. Deshalb sind die Spanier nicht nur offensiv eine gute Mannschaft, sondern auch defensiv. Sie verlieren vorne den Ball, aber Iniesta, Xavi schalten innerhalb von zwei bis vier Sekunden um, und wollen den Ball wieder.

 

Kann man sagen, dass die Zeit von Spielern, die das Spiel des Gegners durch Fouls unterbinden, zu Ende geht?
Ja. Aber es gibt eben leider auch Trainer, die von einem „aggressive Leader“ sprechen und vom „Akzente setzen“, und davon, ein Foul zu machen, um den Gegner zu beeindrucken.

 

So ein Trainer sind sie nicht?
Nein. Es gibt Spielertypen in der Bundesliga, da sträuben sich mir die Haare, die nur von ihrer Härte, ihrer Aggressivität leben. Auf einem hohen Niveau haben diese Spieler nichts mehr zu suchen und sind folglich auch bei einer Topmannschaft nicht zu finden. Nur wenn ich das Spiel des Gegners zerstören will und selbst fürs Spiel nichts tue, können solche Spieler von einem gewissen Wert sein. 

 

Sie dagegen suchen Spieler wie Sven Bender von Borussia Dortmund, dem Balleroberungen im Mittelfeld gelingen, ohne Grätschen, ohne Fouls.
Das macht er hervorragend. Es ist auf dieser Position im zentralen Mittelfeld aber noch mehr gefragt: spielerische Klasse, um den Ballgewinn auch umsetzen zu können. Da kann er sich noch verbessern, aber in der defensiven Balleroberung habe ich ihn in dieser Saison ein paar Mal sehr, sehr gut gesehen.

 

Ein Beispiel?
Wenn ich Diego nehme, und sehe, wie andere Mannschaften früher in Bremen und jetzt in Wolfsburg gegen ihn spielen: umreißen, Foul spielen, Freistoß, daraus ergeben sich Tore. Und dann sehe ich, wie Sven Bender das macht: ohne Foul, Diego einfach begleiten und ablaufen. Begleiten ist das Wichtige, so lange, bis man den Ball gewinnt. Wenn ich grätsche, bin ich auf dem Boden, und komme nie mehr hinterher.

 

Beim 4-4-2, der Grundformation der Nationalmannschaft bei Ballbesitz, ist eine der Voraussetzungen, dass die Spieler auf den Außenpositionen ihre Seite halten, und nicht ständig nach innen drängen.
In der Defensive, wenn der Gegner den Ball hat, können sie die Seite verlassen, in der Offensive ist es gut, wenn sie die Seite halten, um den Platz breit zu machen, die Breite zu nutzen. Sie müssen sich den Raum selbst schaffen, um gutes Passspiel zu etablieren.

 

Es gibt viele Mittelfeldspieler, die damit Schwierigkeiten haben.
Das war auch bei uns lange Zeit ein Problem. Links hat Schweinsteiger gespielt, nicht unbedingt ein Außenbahnspieler, rechts Tim Borowski, Piotr Trochowski, und wer da noch alles gespielt hat, und alle sind immer in die Mitte gedrängt, in einem Bereich von vier, fünf Meter, so dass zentral der Raum eng wurde. Der Gegner hat nur darauf gewartet, dass er den Ball abfangen kann.

 

Das ist besser geworden.
Wir haben Spieler wie Müller, der außen spielen kann, Podolski haben wir daran gewöhnt, außen zu spielen, er macht das zunehmend besser, Großkreutz ist ein Kandidat und auch Götze bietet sich jetzt an, wobei er früher oder später ins Zentrum rücken wird. All diese Spieler sind so ausgebildet, dass sie gerne an der Linie spielen, sie können auch die Linie halten und freuen sich, wenn sie an der Linie spielen können. Für unser Spiel ist das ein Vorteil.

 

Gibt es Weiterentwicklungen ihrer Grundordnung, des 4-5-1, die Sie im Kopf haben?
Von der Raumaufteilung her gibt es da immer ein paar Variationen. Aber noch einmal: Was ich bei unserer Mannschaft sehe, ist vor allem, dass wir an der Passqualität arbeiten müssen. Da sind die Spanier wahnsinnig schnell, aber auch in ihrer Schnelligkeit sicher. In der Bundesliga sehe ich dagegen bei einem Teil der Spieler, einem großen Teil, erhebliche Defizite.

 

Beim Passspiel?
Ja, das kann man beobachten. Diese halbhohen Zuspiele auf zehn Meter, diese halbgaren Pässe, das unseriöse Passspiel, da werden die Balle halbhoch ins Mittelfeld gespielt, da hat der Mitspieler kaum die Chance, den Ball zu verarbeiten. Kann er ihn verarbeiten, ist der Gegner da.

 

Was wird sich bei der Trainingsarbeit verändern?
Ich glaube, dass sich der Fußball in der gruppenspezifischen Trainingsarbeit noch verbessern kann. Ich würde heute als Vereinstrainer, bis auf einen, zwei Tage, wo ich mannschaftstaktische Dinge trainieren würde, nur noch mit kleinen Gruppen arbeiten. Ich würde nur noch mit den Stürmern trainieren, den Mittelfeldspielern, den Abwehrspielern: Die Außenverteidiger machen das, Innenverteidiger das. Ich würde individuelle Taktik trainieren.

 

Selbst die Abwehrspieler noch mal trennen?
Ja! Nicht immer, es ist auch gut, wenn die mal zusammen trainieren, aber in der Offensive hat ein Außenverteidiger andere Aufgaben als ein Innenverteidiger. Innenverteidiger gehen weniger nach vorne, Außenverteidiger müssen nach vorne. Wenn wir das mal machen, im Trainingslager vor einer EM oder der WM, da ist eine unglaubliche Spannung drin, wenn vier oder fünf Spieler zusammenarbeiten. Ganz hohe Konzentration.

 

Wenn die Mannschaftsteile für sich trainieren, dann übernimmt Hansi Flick, der frühere Co-Trainer des Defensivspezialisten Giovanni Trapattoni, die Abwehr.
Da wechseln wir uns ab. Da gibt es Absprachen und die gleichen Inhalte, Hansi Flick trainiert daher auch die Offensive.

 

So, wie die Entwicklung von Spielsystemen in der Geschichte des Fußballs war, müsste nicht ein Defensivkonzept kommen, um Mannschaften wie Spanien und Barcelona zu stoppen?
Hm. Es ist so, dass es die Mischung aus Offensive und Defensive ist, die Spanien stark macht. Das war ja auch die am besten organisierte Mannschaft der WM. Man konnte auf den Videobändern sehen, wie sie innerhalb weniger Sekunden geordnet standen. Das war sehr beeindruckend. Deswegen ist das mit einer rein defensiven Reaktion auf diese Spielweise nicht so einfach. Es kann sein, dass eine Mannschaft wie Italien in einem Spiel Spanien aushebelt und gewinnt. Aber auf mehrere Spiele gesehen, klappt das nicht mehr.

 

Weil die offensiven Mannschaften besser wurden.
Genau, die spanische, die deutsche und andere Mannschaften, wurden offensiv immer besser, haben offensiv immer mehr Möglichkeiten. Man kann natürlich hinten mit sechs Mann spielen, José Mourinho hat das mal gemacht, mit Inter Mailand gegen Barcelona. Oder mit fünf hinten und vier im Mittelfeld, und vorne einen allein lassen. Und wenn die Spanier an einem Tag, auch wenn sie Chancen haben, kein Tor erzielen, dann ...

 

... ist eine Ausnahme und Überraschung möglich. Aber ...
... wenn eine Mannschaft in der Lage ist, offensiv zu spielen und fußballerisch stark ist, wird sie in der Regel, egal wie gut die Defensive geordnet ist, zu Chancen kommen.

 

Was ist mit Mannschaften, die 4-1-4-1 spielen?
Ja. Wenn man so spielt, dann spürt man, dass es da über Jahre keine Entwicklung gibt. Es gibt keine Entwicklung, wenn ich das Spiel nur verhindern möchte. Die Spieler entwickeln sich nicht, sie treten auf der Stelle.

 Wie verhindern Sie, dass Ihre Spieler auf der Stelle treten?
Von den Bundesligaspielen, die wir beobachten, machen wir immer Videoaufzeichnungen. Da suchen wir uns Szenen raus: Das macht der Spieler gut, das macht er weniger gut. Die zeigen wir dann den Spielern, wenn sie bei der Nationalmannschaft sind. Es wäre besser, wenn man die Spieler ein oder zwei Mal im Monat besuchen könnte, in ständigem Dialog mit ihnen wäre.

Nicht so einfach.
Nein, denn es finden viele englische Wochen statt, und wenn ich nach einem Bundesligaspieltag zum Holger Badstuber gehe, und der spielt am Mittwoch in der Champions League gegen Inter Mailand, dann ist es schwierig mit ihm über Situationen zu reden, über die vielleicht auch der Vereinstrainer redet, und die der vielleicht anders anschaut, weil er eine andere Philosophie hat. Wir wollen da auch nicht in die Alltagsarbeit der Vereine eingreifen. Aber vielleicht gelingt es uns doch in den nächsten Jahren häufiger mit den Spielern per Video zu arbeiten.

 

Bei der Nationalmannschaft gibt es keine Ende was die Entwicklung angeht.
Nie. Bei einer Vereinsmannschaft, wenn ich ein Jahr etwas trainiere, dann ist das drin. Das ist bei uns anders. Ich muss immer wieder zurück, wenn ich sehe, etwas klappt nicht so, dann sag ich: Wir müssen an der Basis arbeiten: Passspiel, Ballgewinn.

 

Ballgewinne sehr weit vorne sieht man in der Bundesliga selten.
In der Bundesliga wird oft gesagt: Zieht euch etwas zurück, lasst die anderen kommen. Wenn es einer alleine macht, wird es schwierig, dann rennt er sich tot gegen eine Mannschaft, die gut hinten raus spielt. Man muss das als Verbund, als Mannschaft machen. Pressing geht nur mit dem gesamten Team. Wenn vorne zwei oder drei attackieren, müssen die Mittelfeldspieler vorrücken, die Anspielstationen des Gegners zustellen, die Kette muss hoch stehen. Man muss die Kette auflösen, die Verteidiger müssen eng bei den Stürmern stehen. Die Spanier lösen solche Situationen auf. Wenn gegen die gepresst wird, spielen sie auf Iniesta, und dann sind sieben Mann ausgespielt. Dann wird Pressing gefährlich.

 

Mainz kann pressen.
Die können das. Die können das in der Bundesliga gegen Mannschaften, die unter Druck die Bälle hinten raus hauen. Dortmund macht das auch gut. Unsere Spieler kommen gegen Gerard Piqué oder Carles Puyol, gegen Sergio Ramos oder die Argentinier, die Niederländer. Auf dem Niveau machen die einen Haken und spielen einen Pass. Die Spieler von Barcelona interessiert es nicht, wenn da Drei kommen. Die stellen sich frei, dann kriegt der Xavi den Ball, und der verliert ihn nicht. Mainz macht das gut, aber eben nicht gegen Barcelona.

 

Herrscht in offensiven Mannschaften ein anderer Geist?
Ja. Bei uns im Mittelfeld will keiner, dass Per Mertesacker die Bälle hoch nach vorne kickt. Schweinsteiger will den Ball, Khedira will den Ball, Özil will den Ball, Müller will den Ball. Schweinsteiger und Özil wollen kombinieren, die flippen aus, wenn sie kombinieren können. Wir machen natürlich entsprechende Trainingsformen, auch mal ohne Gegner. Wenn ich dann sage: Diesen Laufweg, diesen Passweg, so soll der Angriff ablaufen, dann haben sie Spaß. Und wenn ein Gegner dazu kommt, dann freuen sie sich, wenn sie den auskombinieren können.

 

Die Spieler wissen, dass sie noch Potenzial haben?
Bei uns sagt niemand: Ich bin jetzt auf dem Niveau und da bleibe ich, mehr will ich nicht erreichen. Das gibt es nicht. Unsere Spieler waren nach dem EM-Finale gegen Spanien oder dem WM-Halbfinale gegen Italien und Spanien, enorm getroffen. Diese Enttäuschung spürte man noch Tage danach. Wenn man mit ihnen spricht, ist es unglaublich, was in den jungen Spielern vorgeht, wenn sie scheitern. Sie wollen das in den nächsten Jahren zurecht rücken. Sie wollen einen Titel gewinnen.

 

Wenn Sie mir Sami Khedira und Mesut Özil telefonieren, merken Sie, dass die Spieler von Real Madrid beeindruckt sind?
Ja. Beide sind durch die WM, aber auch durch den Vereinswechsel selbstbewusster geworden. Mesut Özil war ja eher introvertiert, ein Ruhiger, nun ist er viel selbstbewusster. Beide kommen in ihrer Entwicklung voran. Sie schwärmen vom Verein Real Madrid, schwärmen aber auch vom Konkurrenzkampf, der da herrscht, schwärmen vom Niveau. In jedem Training sind 20 Spieler, die fußballerisch sehr gut sind. Özil sagt: Das macht im Training unheimlich viel Spaß. Er sagt mir immer: Die Zuschauer wollten keinen verkrampften Sieg. Wenn Real schlecht spielt, pfeifen die Zuschauer trotz Führung. Sie wollen ein Spektakel sehen, guten Fußball sehen. Wenn es 0:0 steht, und Real spielt guten Fußball, klatschen sie. Das ist genau das, was Mesut Özil will.

 

Interessant ist, dass Mourinho jungen Spielern eine Chance gibt.
Ja, das ist ja auch in der Bundesliga die entscheidende Sache. Die Trainingsinhalte im Nachwuchsbereich haben sich verändert. Früher wurde nur auf Kraft. Ausdauer und Athletik gesetzt, ein Spieler mit 1,50 Metern Größe hätte keine Chance gehabt. Aber Lionel Messi ist nicht viel größer. Entscheidend ist, dass die jungen, besser ausgebildeten Spieler, eingesetzt werden. 2004, 2005 hieß es in der Liga noch: der ist erst 19, da warten wir noch. Wie lange soll er warten? Und dann wurde einer für diese Position gekauft. Dann hatten die Spieler zwischen 18 und 21 fünf Bundesligaspiele und drei Jahre versäumt. Heute macht der Götze im ersten Jahr vielleicht 34 Spiele, und im nächsten 35, und mit 21 hat er 100 Bundesligaspiele und soundso viele Spiele in der Champions League und dadurch zehn Länderspiele. Diese drei Jahre sind entscheidend.

 

Die Bereitschaft einiger Trainer, junge Spieler zu bringen, ist gewachsen.
Vielleicht auch bedingt durch die Politik der Vereine. Es hat sich die Denkweise durchgesetzt: Wir wollen nicht mehr so viel Geld in ausländische Spieler investieren, die maximal Durchschnitt sind. Die WM hat da zusätzlich was ausgelöst. Thomas Müller ist 20, spielt bei der WM super und wird Torschützenkönig. Mancher hat gesagt: der Müller, der Özil, der Khedira, die sind viel zu jung. Nein, waren sie nicht! Einige haben erkannt: Auch 20-Jährige können auf Topniveau spielen.

 

Hatten Sie als Spieler einen Trainer, wie Trainer Löw heute einer ist?
Rolf Fringer war in der Schweiz für mich ein Trainer, von dem ich etwas über Raumdeckung erfahren habe. Über ein gutes Offensivspiel, aber das war erst am Ende meiner Karriere.

 

Hat sich der Spieler Löw einen Trainer, wie Trainer Löw einer ist, gewünscht?
Hätte ich mir gewünscht. Ich war ja jemand, der technischen Fußball spielen wollte, hätte mir gewünscht, dass der eine oder andere Trainer mehr Wert aufs Fußballspiel legt, als es damals der Fall war. Ich war mit 30 oder 32 körperlich kaputt. Das kam durch die Trainingsinhalte. Ich war mit 30 nicht mehr schnell, nicht mehr dynamisch. Von dem, was ich heute weiß, sind wir verschlissen worden. In der Saisonvorbereitung haben wir Trainingseinheiten gemacht, danach konnten wir nicht mehr laufen, auch in den Spielen waren wir noch stumpf.

 

Was haben Sie damals gedacht?
Wie unsinnig ist es, mit Medizinbällen den Berg hoch zu rennen. Ein Mal ist ja gut, aber fünf Mal pro Woche? Oft war das der einzige Trainingsinhalt. Das war zum Teil sehr rustikal.

 

Heutzutage würden Spieler das nicht mitmachen?
Sie würden überlegen, ob sie das fußballerisch weiterbringt, und würden sagen: Nein.

 

Danke Herr Löw.
Bitte.

 

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Joachim Löw wurde am 3. Februar 1960 in Schönau im Schwarzwald geboren. Als Profi spielte er unter anderem beim SC Freiburg, VfB Stuttgart, Eintracht Frankfurt, Karlsruher SC sowie beim FC Schaffhausen und FC Winterthur in der Schweiz. 1995 holte ihn Rolf Fringer als sein Assistenztrainer zum VfB Stuttgart. Als Fringer ein Jahr später auf den Posten des schweizerischen Nationaltrainers wechselte, wurde Löw sein Nachfolger. 1997 gewann er mit Stuttgart den DFB-Pokal, 1998 unterlag der VfB dem FC Chelsea im Finale des Europapokals der Pokalsieger und wurde Vierter in der Bundesliga. Stuttgarts damaliger Präsiden Gerhard Meyer-Vorfelder entließ Löw dennoch und verpflichtete Winfried Schäfer als Nachfolger. Joachim Löws weitere Stationen: Fenerbahce Istanbul, Karlsruher SC, Adanaspor, FC Tirol Innsbruck und Austria Wien. Im Juli 2004 wurde Löw Co-Trainer von Bundestrainer Jürgen Klinsmann, seit August 2006 ist er dessen Nachfolger. Von der französischen Sportzeitschrift „L’Équipe“ wurde Joachim Löw zum „Trainer des Jahres 2010“ gewählt. Sein Vertrag als Bundestrainer wurde bis 2016 verlängert.
 

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