PORTRÄT
Garbsen, Highbury, Fortaleza
Zum Rücktritt von Per Mertesacker aus der Nationalelf. Ein Auszug aus dem Buch „Die Fußball-Nationalmannschaft. Auf der Spur zum Erfolg." Von Jörg Marwedel.

 

Per MertesackerJubel nach dem 3:0 gegen Portugal: Per Mertesacker ist in der Viererkette gesetzt. Foto Pixathlon

 

Die Jungs drängen sich um den großen Mann, den manche mit Per andere mit „Du, Herr Mertesacker“ anreden. Die Neun- bis Zehnjährigen klatschen ihn ab, bis einer seinen ganzen Mut zusammennimmt und krächzt: „Wir bedanken uns bei Per, weil er für uns immer bezahlt.“ Und dann spielen sie zusammen Fußball in der Turnhalle der Grundschule Garbsen, nicht weit entfernt von Pattensen, wo der Nationalspieler aufwuchs. Der Große bindet einem der Jungs die Schuhe zu, lobt gute Pass-Versuche, geglückte Schüsse und Torwartparaden. Per Mertesacker zeigt seinen Mitspielern, was Mannschaftsgeist ist.

Der 1,98 Meter große Abwehrspieler überragt die meisten Kollegen nicht nur auf dem Platz, sondern auch, wenn es um soziales Engagement geht. Mit seiner Stiftung finanziert er das Pilotprojekt „Sport als Chance“ in Garbsen. Kostet fast 30.000 Euro im Jahr. Bringt aber eine Menge. Die Kinder haben zu 85 Prozent einen Migrationshintergrund und werden von zwei von der Stiftung bezahlten pädagogisch ausgebildeten Trainern zweimal in der Woche betreut. Erst isst man gemeinsam Mittag, dann werden unter Aufsicht die Hausaufgaben gemacht, und dann spielen sie Fußball. Mertesacker möchte, dass die Kinder gegenseitigen Respekt lernen, Freude haben und merken, dass sich in dieser Gesellschaft doch jemand um sie kümmert. Die Stiftung hilft in der „Aktion Kindertraum“ auch kranken Kindern. Im hannoverschen Vorort Laatzen trägt sie eine Tafel für Menschen, die kaum zu Essen haben. Und auch das Projekt „Wir helfen Afrika“ wird unterstützt.

In erster Linie ist er noch immer ein begehrter Profi, der nun einen Vertrag mit Laufzeit bis 2015 bei Arsenal London unterschrieben hat. Es gibt Profis, die wegen der neuen kulturellen Eindrücke und anderen Sprache von einem Wechsel ins Ausland schwärmen. Das Geld, so fügen sie oft hinzu, spiele da nur eine untergeordnete Rolle. Jetzt, da Per Mertesacker tatsächlich in die Premier League in England gewechselt ist, darf man zu einen Großteil davon ausgehen, dass es ihm tatsächlich darum geht, eine neue Kultur kennen zu lernen.  

Seine Schwächephase nach der WM in Südafrika, die ihn wie anderen Mitspielern zu schaffen machte, hat das Interesse der Großklubs nicht erlahmen lassen. Trainer wie Manchesters Alex Ferguson oder Arsenals Arséne Wenger sind beeindruckt von diesem Innenverteidiger, der, wie die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb, „so viel älter wirkt als er wirklich ist“. Das vermutlich daher, weil Mertesacker mit seinem Stellungsspiel vergleichsweise wenig Zweikämpfe bestreiten muss, meist den sicheren Pass bevorzugt und wegen seiner Größe die meisten Kopfballduelle gewinnt. Es sieht aus, wie bei einem Riesen, der kaum springen muss. Eine derartige Gelassenheit kann man bei guten Abwehrspielern in einem Spiel der Alten Herren erleben, wo man knifflige Situationen mit dem richtigen Stellungsspiel lösen kann.

Dass Per Mertesacker seit 2005 Stammspieler der deutschen Nationalelf ist und bei den WM-Turnieren 2006 und 2010  Stammspieler war, ist wohl weniger seinem außergewöhnlichen Talent, sondern eher seiner Intelligenz geschuldet. Der Abiturient hatte durchaus Zweifel, die Profikarriere einzuschlagen. Bis ihm der Jugendtrainer von Hannover 96, Jörg Goslar, zum Training mit der ersten Mannschaft verhalf, wo dem Fußballlehrer Ralf Rangnick bald auffiel, wie gut der Junge ein Spiel lesen konnte und wie fehlerfrei er auf dem Platz agierte.

Mehr noch als diesen beiden Trainern hat Per Mertesacker seinem Vater Stefan zu verdanken. Er betreute ihn schon beim TSV Pattensen, seinem Heimatklub. Dann wechselte er zusammen mit seinem elfjährigen Sohn zu Hannover 96, wo er ihn zunächst ebenfalls auch fußballerisch erzog. Der Funktionär Stefan Mertesacker war im Verein bald so angesehen, dass er sogar die Leitung des Fußball-Amateur-Abteilung übernahm. Der Vater hat dem Filius bei allem Ehrgeiz auch den Spaß gelassen. Noch heute bedankt dieser sich bei seinen Eltern Stefan und Bärbel dafür, dass sie ihn so „behutsam aufgezogen“ haben. Auch deshalb denkt er darüber nach, ob er auch nach seiner Profikarriere beruflich etwas Soziales machen will. Nicht ausgeschlossen, dass der Abiturient mit Durchschnittsnote 2,8 noch einmal ein Fernstudium in dieser Richtung absolviert.

Es wäre eine logische Fortführung seines Engagements in der Mertesacker-Stiftung, oder seinem Engagement gegen Rassismus bei „Schule mit Courage“, bei der Polizei-Aktion „Don’t drink too much“ oder seiner Schirmherrschaft bei den Special Olympics der Behinderten.

Anders als mancher Mitspieler dürfte er kaum auf der Trainerbank im Profifußball landen. Er weiß um den Erfolgsdruck im Fußballgeschäft. Da bleibe, „die Menschlichkeit oft auf der Strecke“. Als Zivildienstleistender hat er gelernt, „dass es ganz andere Probleme auf der Welt gibt“. Per Mertesacker hat damals in einer geschlossenen Anstalt mit geistig und seelisch behinderten Männern gearbeitet. Menschen, die nicht allein lebensfähig waren, die oft kaum sprechen konnten. „Ich habe“, sagt Mertesacker, „damals gemerkt, dass ich das gut verkraften konnte.“

 

Die Fußball-Nationalmannschaft. Auf der Spur zum ErfolgWeitere Porträts der Nationalspieler und Interviews lesen Sie in „Die Fußball-Nationalmannschaft. Auf der Spur zum Erfolg" vom Matthias Greulich (Hg.) und Sven Simon. 176 Seiten, 19,90 Euro, Copress Verlag. ISBN 978-3-7679-1048-5

 

Klicken Sie hier, um „Bob Marley hat mich geprägt“: Per Mertesacker am Lügendetektor

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