INTERVIEW
Täter und Opfer
Tull Harder vom Hamburger SV war einer der größten Sportstars der Weimarer Republik. Nach seiner Karriere arbeitete er als SS-Mann im Konzentrationslager Neuengamme. Dorthin wurde mit dem Boxer Johann Trollmann ein anderer berühmter Sportler verschleppt, weil er Sinto war. Der Hamburger Autor Roger Repplinger hat für seine Doppelbiografie der beiden Sportler fast vier Jahre lang recherchiert. In „Leg dich, Zigeuner“ beschreibt er eindringlich, wie der eine zum Täter und der andere Opfer wurde. Interview Matthias Greulich



Johann Trollmann und Tull Harder
Zwei Sportstars: Johann Trollmann (links) und Tull Harder



Herr Repplinger, wie populär war der HSV-Stürmer Tull Harder in den Zwanzigerjahren?
Roger Repplinger: Man kann ihn mit Uwe Seeler vergleichen. Als Spieler ähnelte er Horst Hrubesch. Er hat für damalige Verhältnisse viele Länderspiele gemacht, seine Spielweise war spektakulär. Er war groß, zweikampfstark, robust, ein „Brecher“ oder „Durchreißer“, wie man damals sagte. Gut im Kopfball, harter Schuss. Harder war einer der ersten Fußballer mit dem Werbung gemacht wurde – ohne seine Zustimmung für eine Zigarettenmarke, was dem DFB missfiel.

Sie beschreiben, wie Harder nach seiner Fußballkarriere der NSDAP beitritt, sich freiwillig zur SS meldet und während des Krieges im Konzentrationslager Neuengamme arbeitet. In dieses KZ wird ein anderer Sportstar der Weimarer Republik verschleppt: der Boxer Johann Trollmann. Wie kamen Sie darauf, diese Doppelbiografie von Harder und Trollmann zu schreiben?
Roger Repplinger: Mir war aufgefallen, dass beide gleichzeitig in Neuengamme waren. Ich sah die Chance, einen Täter und ein Opfer des Nationalsozialismus, die als erfolgreiche Sportler eben mehr gemein haben als andere Opfer und Täter, zu beschreiben. Diese beiden Verbindungen zwischen Harder und Trollmann, als Sportler sowie als Täter und Opfer, versuche ich herauszuarbeiten. Der SS-Mann Tull Harder ist normaler als andere SS-Leute, kein Sadist, er hat keinen Spaß daran, Gewalt auszuüben. Und Trollmann, der Deutsche Meister der Profis im Halbschwergewicht des Jahres 1933 gerät ins Getriebe nationalsozialistischer Verfolgung, weil er Sinto ist und für die Rassefanatiker der NSDAP eine Provokation darstellt. Als Angehöriger einer angeblich minderen Rasse haut er seinen arischen Gegnern, die angeblich einer wertvolleren Rasse angehören, im Ring die Fresse voll.

Wie war die Recherche in Neuengamme, einem „Ort des Grauens“, wie Sie schreiben?
Roger Repplinger: In Neuengamme gibt es eine hervorragend sortierte Bibliothek und ein Archiv mit Dokumenten, die fürs Buch wichtig waren. Ich habe dort ein paar Monate, von den Mitarbeitern den Gedenkstätte bestens betreut, gearbeitet. Trotzdem fand ich den Ort zunächst schwierig, um es vorsichtig zu sagen. Ich bin an dem Fenster der Bibliothek gesessen, aus dem man auf die Wiesen schaut, und nicht an dem Fenster zum Appellplatz hin. Irgendwie, auch mit Hilfe der Mitarbeiter der Gedenkstätte, ist es dann gegangen.

Die Passagen, in denen Sie das Leben im Lager beschreiben, sind sehr eindringlich. Wie war Ihnen als Erzähler einer derart grausamen Geschichte zumute?

Roger Repplinger: Ich weiß, dass die Lektorin beim Lesen des Manuskripts an bestimmten Stellen geweint hat. Ich weiß auch, dass es Käufern des Buches so ergangen ist. Wieso sollte es dem Autor anders gehen? Dass im KZ-Neuengamme fünf-, sechsjährige Sinti-Kinder gelebt haben, in Auschwitz Kinder im so genannten Zigeuner-Familienlager B II e auf die Welt kamen, und was mit den Kindern dann passierte, gehört zum Schrecklichsten, was man sich vorstellen kann. Ein SS-Mann wie Harder, der in der Kommandantur von Neuengamme sitzt, nur mit wenigen Häftlingen Kontakt hat, trägt zum Erhalt des KZ-Systems bei, ohne Figuren wie ihn gäbe es kein KZ. Damit ist er für den Tod von Häftlingen wie Trollmann mitverantwortlich. Und doch gibt es einen Unterschied zu den SS-Männer der Totenkopf-Kommandos, die im Lager herumliefen und Leute erschlugen. Bis hin zu Dr. Mengele, der in Auschwitz Sinti mit TBC infizierte, um zu sehen wie die Krankheit ausbricht und sich entwickelt.

Ein KZ-Buch haben Sie dennoch nicht geschrieben.
Roger Repplinger: Nein. Ein großer Teil des Buches dreht sich um Boxkämpfe, einen erfolgreichen Boxer, der einen sozialen Aufstieg erlebt, der von den Zuschauern geliebt wird, viel Geld verdient. Und einen Stürmer, der mehrfach Deutscher Meister wird. Die Kindheit der beiden wird erzählt, wie sie ihre Sportarten finden, wie diese Sportarten im Kaiserreich und der Weimarer Republik populär werden. Das wird dargestellt, auch damit man versteht, was dann im Dritten Reich geschieht.

Ist „Leg dich, Zigeuner“ die erste große Biografie über einen Sinto?
Roger Repplinger: Zumindest über einen Sportler, der Sinto war.

Johanns Großneffe Manuel Trollmann hat Ihnen sehr geholfen.
Roger Repplinger: Ohne ihn würde es das Buch so nicht geben. Er hat die Sinti unter meinen Gesprächspartnern überzeugt, dass es im Sinne seines Großonkels ist, mit mir zu reden. Viele sind misstrauisch, was ich nach den Erfahrungen im Dritten Reich und der Haltung der Bundesrepublik, etwa was Entschädigungszahlungen betrifft, gut verstehe.

Sie haben fast vier Jahre an dem Buch gearbeitet. Wie sehr haben Sie am Ende mit den Figuren gelebt?

Roger Repplinger: Eng. Sehr eng. Das fiel bei Rukeli leicht und war bei Harder eine Herausforderung. Weil es der Vorstellung eines erfolgreichen Sportlers widerspricht, dass so jemand in einem KZ arbeitet. Das ist schwer zu verstehen bei Harder, der durch die Welt gereist ist, durch die Versicherungsagentur, mit der ihm der HSV den Wechsel von Eintracht Braunschweig versüßte, finanziell abgesichert war. Warum macht der das? Bei einem Fußballer wie Harder unterstellt man Weltoffenheit und Liberalität. Es zeigt sich, dass dies nicht der Fall ist. Gerade wenn man, wie ich, den Fußball liebt, besteht die Gefahr, dass man Harder dafür bestraft, dass er einem die Illusionen über den Fußball und Fußballer raubt. Ich habe versucht, es mir mit Harder so schwer wie möglich zu machen, und kein vorschnelles Urteil über ihn zu fällen.

Harder kann nicht verstehen, wieso ihm nach Kriegsende der Prozess gemacht und er verurteilt wird. Wie ist das zu erklären?
Roger Repplinger: Da hat ein überzeugter Nationalsozialist ja nicht viele Möglichkeiten: Entweder man erkennt, dass alles, was man im Dritten Reich gemacht und woran man geglaubt hat, falsch war. Das ist schwierig für ihn, weil er die Fratze des Nationalsozialismus kannte. Er kann sich nicht damit herausreden, dass er nicht gewusst hat, was in den Lagern passiert war. In Nürnberg, beim Haupt-Kriegsverbrecher-Prozess, gibt es Angeklagte, die sagen: Nun erst wissen wir, was der Nationalsozialismus wirklich war, was Hitler wirklich wollte, wir distanzieren uns davon. Das kann Harder nicht. Er wusste es. Kurz vor Ende des Krieges wird er Lagerkommandant. Zunächst in Hannover-Ahlem, dann in Uelzen. Beim Neuengamme-Prozess, wo er als Zeuge aussagt, und beim Ahlem-Prozess mit ihm als Hauptangeklagten, zeigt kein SS-Mann Einsicht in das von ihnen begangene Unrecht. Im Ahlem-Prozess behauptet der SS-Untersturmführer Harder, er, als Kommandant des Lagers, habe nicht gewusst, was dort für Grausamkeiten passiert sind, was nicht glaubhaft ist. Seine Verteidigungsstrategie – neben dem ständigen Verweis auf seine Fußballerkarriere – hebt darauf ab, dass er keinen Häftling verletzt, misshandelt oder getötet hat.

Sagte er die Wahrheit?
Roger Repplinger: Ja, das wird von den als Zeugen geladenen Häftlingen bestätigt. Er hat eine Prügelstrafe abbrechen lassen. Alle Zeugen berichten das, weil es so einzigartig ist. Harder hat immer gerne einen gehoben, schon als Fußballer. In Ahlem trinkt er so viel, dass es seine Untergebenen merken. Ein sympathischer Zug, dass er dieses Lager wohl nicht aushielt, ohne es sich weg zu saufen.

Als Harder 1956 starb, hielten HSV-Nachwuchsspieler im Klubdress die Totenwache. Wie ist der Verein mit dem verurteilten Kriegsverbrecher umgegangen?
Roger Repplinger: Genau wie der Rest der Republik mit den anderen Kriegsverbrechern. Der HSV hat ihn heimlich ausgeschlossen und heimlich wieder aufgenommen. Der Ausschluss erfolgte opportunistisch, weil der HSV wieder am offiziellen Spielbetrieb teilnehmen wollte. Die Engländer haben genau hingesehen, wie sich die Vereine gebärden. Ich denke, dass der Klub den Ausschluss Harders nicht bekannt gegeben hat, weil man Proteste von Mitgliedern fürchtete. Harder hat sich nach seiner Entlassung aus der Haft – Weihnachten 1951, er hat vier von den 15 Jahren, zu denen er verurteilt worden war, abgesessen – wieder in HSV-Kreisen bewegt. Es gibt ein Foto, wo ein Jugendspieler mit Mondgesicht, man schätzt ihn auf 16, 17 Jahre, dem großen Tull Harder in den Mantel hilft. Der junge Mann ist Uwe Seeler.

Das Interview ist in der Juli-Ausgaber der Szene Hamburg erschienen.

Leg dich, Zigeuner

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