ENGLAND
Die Anzüge brennen nicht mehr
Die Premier League hat sich verändert. Während die Neulinge früher bei den Klubs einfach nur mies und gemein behandelt wurden, gibt es heute wirklich unangenehme Rituale: Die Spieler müssen singen oder gar Vorträge über ihr Leben halten Von Raphael Honigstein.

Robert Huth
Meister 2016 mit Leicestter City: Robert Huth. Foto Heiko Prigge



Gibt es ein Gegenteil von Vorfreude? Vorfurcht, vielleicht. Direkt Angst wird der 50-Millionen-Euro-Mann vor seinem ersten bedeutenden Auftritt im neuen Trikot nicht gehabt haben, aber er hätte sich einen angenehmeren Termin vorstellen können. Zum Beispiel eine Knie-Arthroskopie. Andrij Schewtschenko blieb jedoch keine Wahl. Er musste im Sommer wie alle Neuankömmlinge auf einen Stuhl steigen und der versammelten Mannschaft sowie dem Trainerstab des FC Chelsea ein Liedchen singen. Er sah dabei nicht sehr glücklich aus.
Der Ukrainer entschied sich für „We Are The Champions“. Ein einfacher Text, eine Melodie, die jeder kennt. Leider traf er den Ton nicht ganz. Buhrufe und ein Brötchenbombardement waren sein Lohn. „Er war absoluter Müll“, urteilte der Niederländer Arjen Robben. Auf dem Platz hat der Lieblingsspieler von Roman Abramowitsch seitdem kaum besser abgeschnitten. Das System von Trainer José Mourinho läge ihm nicht, heißt es, er sei müde von der Weltmeisterschaft und brauche noch Zeit für die Eingewöhnung. Möglicherweise war ja das auch missratene Ständchen schuld. Sein Selbstvertrauen, so scheint es, hat in den 90 Sekunden auf dem Stuhl irreparablen Schaden genommen.

Sein Kollege Michael Ballack hat es besser gemacht. Auch der Deutsche hatte tagelang Bammel vor der Aufnahmeprüfung. Er entschied sich für einen Schlager von Peter Cornelius. Jüngere Kollegen in der Nationalmannschaft wird er mit dieser Wahl nicht beeindrucken können, doch für die Ohren der neuen Vereinskameraden klang „Du entschuldige I kenn di“ so obskur und merkwürdig, dass ihnen in ihrer Verwunderung nichts anderes übrig blieb, als freundlich zu klatschen.
Später wurde im ZDF-Sportstudio erzählt, Mourinho hätte dieses Ritual eingeführt, um jeden neuen Rekruten auf Anhieb bloßzustellen. Dem Portugiesen traut man in Deutschland alles zu, doch in Wahrheit hat sich Kapitän John Terry die Sache ausgedacht und dabei auch nur auf gängige Praktiken auf der Insel zurückgegriffen. Mehr oder minder wilde Initiationsriten haben dort nämlich eine lange Tradition.

Karl-Heinz Riedle musste schon 1997 zum Einstand in Liverpool auf einem Stuhl in der Kabine trällern. An den genauen Titel kann sich der ehemalige Nationalstürmer nicht mehr erinnern, „es war irgendein bayerisches Scheißlied“, sagt er. In Anfield hielt sich die Begeisterung stark in Grenzen. „Es gab eine große Bierdusche für mich“, lacht er. Der urige Brauch hat sich bei den Reds gehalten. Alle Neuverpflichtungen müssen zu Jahresende englische Weihnachtslieder zum Besten geben. Den zahlreichen Ausländern fällt das nicht leicht. Aber besser sie singen als die Lokalhelden Steven Gerrard und Jamie Carragher. „Jingle Bells“ in der säuselnden Scouser-Version – das würde jedem den Wechsel an die Mersey verhageln.

Manchen Spielern widerfuhr dagegen wirklich Überraschendes: „Ich hatte zuvor schon einiges über diese englische Sitten gehört“, sagt Hannovers Kapitän Michael Tarnat, der 2003 für eine Saison zu Manchester City wechselte. „Ich hatte mir Gedanken gemacht und war gut vorbereitet. Aber es passierte nichts. Es gab keine besondere Aktion.“ Er hört sich fast ein wenig enttäuscht an. Um mehr zu erleben hätte er lieber zu den Bolton Wanderers wechseln sollen, denn dort liegt die Betonung klar auf Spaß. Man geht mit den Neuankömmlingen zum Toilet-Racing: Auf Go-Karts mit WC-Sitzen wird durch einen Parcours gebrettert. Man muss wohl Brite sein und schon einige Pints zuviel getrunken haben, um das rasend komisch zu finden.

Mehr leiden musste dagegen Aliaksandr Hleb. Der Weißrusse verschluckt sich ein wenig, als er nach dem Aufnahmeritual von Arsenal gefragt wird. Es scheint ihn ernsthaft mitgenommen zu haben; man muss ihn etwas drängen, alles zu erzählen. Kann es bei den multikulturellen Gunners, gerade unter dem mondänen Trainer Arsène Wenger, wirklich so hoch hergegangen sein? Nein. Der ehemalige Stuttgarter musste sich, wie sich herausstellt, einem etwas anderen Ritual unterziehen. „Im Klubrestaurant musste ich auf Englisch einen Vortrag halten“, sagt er, „über meine Vorstellungen, Wünsche, Ambitionen.“ Ein Referat über den professionellen Fußball im Allgemeinen und Arsenal im Speziellen. Typisch Wenger. Hleb aber, man merkt das, hätte wohl lieber gesungen.

Einfach nur mühsam waren Robert Huths Lehrjahre beim FC Chelsea. Wie alle Jugendspieler musste der Berliner mit 16 die Schuhe eines Profis putzen. „Mir machte das gar nichts aus“, erzählt er, „ich war sehr gut darin.“ Wenn die älteren Spieler zufrieden waren, gab es ein paar Pfund als Dankeschön, Marcel Desailly nahm in ab und zu in seinem Ferrari mit. Huths Ruf als erstklassiger Schuhputzer wurde ihm jedoch zum Verhängnis. Die halbe erste Mannschaft wollte, dass er für sie tätig wurde. „Ich habe das ein paarmal gemacht“, sagt er, „auch das war kein Problem.“ Heute gibt es das nicht mehr. Mourinhos Vorgänger, der italienische Trainer Claudio Ranieri, hat diesen auf der Insel weit verbreiteten Brauch abgeschafft.

Für den Fußballakademiker John Williams zeigen diese Traditionen, wie stark der britische Fußball von der Kultur der working class, der Arbeiterschicht, geprägt ist. „Working class culture betont die Bedeutung der Erfahrung“, sagt er, „neue, also jüngere Mitglieder der Gruppe müssen deswegen den Etablierten demonstrativ Achtung zollen und die Hierarchie bestätigen.“ Früher seien ähnliche Aufnahmerituale auch in Firmen und Fabriken gang und gäbe gewesen.
In deutlich verschärfter Form findet man sie heute nur noch bei der Armee. Neue Rekruten werden auf verschiedene Weise drangsaliert, manchmal rutschen die Rituale dabei auch in eindeutig homoerotische Gefilde ab. Trotz zahlreicher Proteste und einigen mysteriösen Todesfällen werden die zum Teil unmenschlichen Praktiken von den Vorgesetzten dabei heimlich goutiert. Sie sehen es gerne, wenn Männer „gebrochen“ werden – danach kann man sie einfacher zu befehlshörigen Soldaten umformen.

Der Fußball wollte auf der Insel schon immer ein bisschen wie Krieg sein, deswegen ging es in Vereinen lange Zeit kaum minder brutal zu. Die Neuen mussten dabei beweisen, dass sie die ihm britischen Fußball so wichtige Leidensfähigkeit und Härte im Nehmen mitbrachten. „In der Armee lernt man, als Einheit zusammenzuarbeiten und sich auf den anderen zu verlassen“, sagt Gordon Taylor, der Vorsitzende der Spielergewerkschaft. „Im Fußball ist das genau so, deswegen ist die Gruppendynamik so ein wichtiger Faktor. Heute ist das Aufnahmeritual meistens ein harmloser Spaß. Früher konnte es Mobbing sein.“

In der Tat. Martin Buchan, der von 1972 bis 1983 für Manchester United spielte, erinnert sich an neue Spieler, deren Genitalien mit Schuhcreme eingerieben wurden. Und bei den Rangers aus Glasgow gab es bis vor kurzem das sogenannte Gliding-Ritual. „Man musste sich nackt ausziehen und wurde auf dem Rücken liegend an den Füßen von den anderen über den Kachelboden gezogen“, sagt der frühere Rangers-Stürmer Steve McLean. „Es war ein bisschen unangenehm, um es vornehm auszudrücken. Aber man fühlte sich danach als Teil des Vereins. Es verstärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl. Man lernte, die Älteren zu respektieren und ihnen zu folgen“.
„Diese Dinge konnten schon traumatisch sein“, sagt Boltons Trainer Sam Allardyce. „Junge Spieler wurden im Gesicht mit Schuhcreme eingemalt oder fanden ihre Sachen auf dem Dach wieder.“ Bei West Ham United konnten Neuankömmlinge ihre Schuhe im Gefrierfach suchen, manchmal wurden dazu ihre Unterhosen mit „Deep Heat“ eingeschmiert, einer stinkenden, wärmenden Muskelcreme.
Am buntesten aber trieb es die berüchtigte Crazy Gang des FC Wimbledon unter dem raubeinigen Kapitän Vinnie Jones. Neue Spieler, die am ersten Tag in ihrem besten Anzug erschienen waren, hatten Glück, wenn nach dem Training nur ein Hosenbein fehlte oder ein Ärmel auf einmal zehn Zentimeter kürzer war. Meistens wurden die Anzüge noch in der Kabine verbrannt. Schuhe wurden festgenagelt, Socken aufgeschnitten. Ab und an wurden Spieler sogar in einen nahe gelegenen Kanal geschmissen. Nicht einmal der Trainer war in Wimbledon sicher. Egil Olsens Gummischuhe wurden mit Rasierschaum gefüllt und die Luft aus seinen Autoreifen gelassen. Selbst Eigentümer Sam Hamman musste einst tagelang zu Fuß ins Klubhaus laufen – die Spieler hatten seinen Wagen entführt und ihn ohne genauere Angaben zu machen in einem Umkreis von 16 Kilometern zurückgelassen.

Solche derben Streiche sind viele Eigenheiten des britischen Fußballs mittlerweile im Verschwinden. So etwas wie der „Tuesday Club“, die Kampfsäufertruppe der Arsenal-Legenden Tony Adams, Nigel Winterburn und Lee Dixon, die sich mit Vorliebe jungen Spielern annahm, ist heute undenkbar. Überlebt haben, wenn überhaupt, nur noch die harmlosen Varianten der Initiationsrituale, sozusagen als Echos der Geschichte. Doch mit dem Singen auf den Stühlen, dem Toilet-Racing und anderen Späßchen könnte es schon bald ein Ende haben. Dann nämlich, wenn neben den Eigentümern und der Mehrheit der Spieler auch alle Kapitäne in der globalisierten Premier League Ausländer sind.

Der Text ist in RUND #19_02_2007 erschienen.

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