WM 1998

"Ich werde spielen, Kahlkopf"

RUND erzählt die ganze Geschichte von Ronaldos mysteriöser Erkrankung im WM-Finale 1998. Von Matthias Greulich

Ronaldo

Im Finale der WM 1998 nicht fit: Ronaldo 
Foto Hoch Zwei



Der Mann im Bauch des Stade de France war sehr aufgeregt, blieb aber höflich, wie es sich für einen Volunteer gehört. „Monsieur Ricardo, s’il vous pla√Æt, das Taxi von Ronaldo ist angekommen.“ In weniger als einer Stunde würde das Finale der Weltmeisterschaft 1998 zwischen Frankreich und Brasilien beginnen, und niemand im Stadion wusste, wie es dem Star der Selecao ging. Ricardo Setyon, der damalige Pressechef der Brasilianer lief zum Eingang: „Ronaldo war weiß wie ein Stück Papier, trug Shorts, Tennis-Schuhe ohne Socken und eine kleine Tasche unterm Arm. Er sagte: ‚Ich werde spielen, Kahlkopf.' Er nannte mich immer Kahlkopf - ich ihn übrigens auch.“ Setyon fragt Ronaldo, ob er verrückt sei, doch der dreht den Spieß um: „Du bist verrückt, weil du nicht glaubst, dass ich spielen werde.“ Setyon brachte ihn in die Kabine, in der einige Spieler Bälle hin und her passten, wie man es aus den Fernsehspots mit den Stars kennt. „Als sie Ronaldo sahen, war es wie ein Donner an einem sonnigen Tag. Alle hörten auf zu spielen. Es herrschte Stille“, erinnert sich Setyon.

Am Nachmittag des Endspieltages hatte Ronaldo im Hotel einen Anfall erlitten, dabei wild um sich geschlagen; er hatte Schaum vorm Mund, die Mitspieler mussten ihn festhalten. Als die von Roberto Carlos gerufenen Ärzte auf sich warten ließen, rettete ihm César Sampaio geistesgegenwärtig das Leben, als er die Zunge, die Ronaldo verschluckt hatte, herauszog. Ronaldo konnte sich später nicht an den Vorfall erinnern. Zico, der als Koordinator zur brasilianischen Delegation gehörte, erinnert sich an ein Treffen des Trainerstabs mit den Teamärzten: „Die Ärzte sagten, dass Ronaldo nicht spielen könne. Da war es 17.30 Uhr. Einer der Ärzte ging zu Ronaldo, um ihm zu sagen, was passiert war. Wir waren alle geschockt und hatten Angst um den Jungen.“ Für Ronaldo sollte Edmundo spielen, der zwar nicht über Ronaldos Klasse verfügt, sich aber in guter Form befand. Als offizielle Begründung hieß es, Ronaldo habe seit dem Halbfinale gegen Holland Probleme mit dem Sprunggelenk.

Auf der offiziellen Liste, die an die Medienvertreter im Stadion verteilt wurde, steht hinter Ronaldos Namen „n.a.“, not available. Der damals 21-Jährige wurde ins Krankenhaus von Les Lilas gebracht und untersucht. Bei den Tests wurde nichts diagnostiziert, der Verdacht auf einen epileptischen Anfall bestätigte sich nicht. Ronaldo musste eine Erklärung unterschreiben, auf eigene Verantwortung entlassen zu werden. Einen Kontakt zum Team, das mit dem Bus ins Stadion gefahren ist, gab es nicht. Entsprechend bedrückend war die Stimmung im Team „Zum ersten Mal seit bestimmt 30 Jahren fuhr eine brasilianische Elf ohne Samba-Musik zum Spiel“, beschreibt es Setyon.

Die Spieler waren in der Kabine. Zico sah sich die Schlussfeier der WM auf dem Rasen an, als er überraschend zu einem Meeting in die Umkleide gerufen wurde. „Ronaldo zog sich das Trikot an und bat Dr. Lidio Toledo, den Mannschaftsarzt, spielen zu dürfen. Die Ärzte in der Klinik hätten nichts gefunden. ‚ÄöWirklich?‚Äò, fragte Toledo und Ronaldo antwortete vor versammelter Mannschaft: ‚ÄöJa, ich habe keine Probleme. Ich möchte spielen und ich werde spielen!‚Äò“ Trainer Mário Zagallo entschied, Ronaldo aufzustellen, Edmundo wurde auf die Bank geschickt. Pressechef Setyon musste die Liste, die später an die Medienvertreter verteilt wurde, vom Fifa-Medienbeauftragten ändern lassen. Zico ist noch immer fassungslos: „Nachmittags sagten sie Ronaldo könne nicht spielen, am Abend sagten sie, er könne spielen. Es war verrückt.“ Zeugen bestätigen, dass Zico Toledo am Hemd packte und drohte: „Wenn dem Jungen etwas passiert, bringe ich dich eigenhändig um.“ Er setzte sich nicht auf die Bank und hat danach nie wieder für die brasilianische Nationalelf gearbeitet. „Ich hatte das ganze Spiel über Angst“, sagt der jetzige Trainer der japanischen Nationalelf acht Jahre nach dem für Brasilien so traurigen WM-Finale.

Die verängstigte und geistesabwesende Selecao verlor ohne jede Gegenwehr 0:3 gegen Frankreich. In Brasilien reagierte man geschockt. Warum wurde der völlig apathisch wirkende Ronaldo überhaupt eingesetzt? Noch in der Nacht des Finales kam es beinah zum Handgemenge zwischen Zagallo und brasilianischen Journalisten. Setyon musste ihn zurückhalten, auf die Kritiker loszugehen. Sofort gab es Gerüchte, warum Zagallo den offensichtlich nicht spielfähigen Ronaldo eingesetzt hatte. Steckte Nike, der Ausrüster der Selecao, dahinter? Der kommunistische Parlamentsabgeordnete Aldo Rebelo beantragte einen Untersuchungsausschuss, der 2001 zu keinem Ergebnis kam. Axel Bellos, Korrespondent des britischen „Guardian“, war bei vielen Anhörungen dabei. In seinem Buch „Futebol“ beschreibt er, wie sich Zagallo vor den Politikern rechtfertigte. „Wenn ich ihn nicht aufgestellt und Brasilien 0:3 verloren hätte, dann würden die Leute immer noch sagen, Zagallo ist ein Holzkopf, er hätte Ronaldo spielen lassen müssen, schließlich ist er der beste Fußballer der Welt.“ Ronaldo sagte ebenfalls aus: „ Die Beziehung zu Nike ist sehr gut, weil man dort nie etwas von mir verlangt hat, außer, dass ich ihre Fußballschuhe trage.“

Anders als bei der WM 2002 hatte Ronaldo in Frankreich gesundheitliche Probleme. Wegen seiner Knieprobleme erhielt er starke Dosierungen von Medikamenten, die eine Ursache für den Anfall gewesen sein können. Er konnte nicht richtig mittrainieren, wurde aber zu jedem Spiel fit gespritzt.

Wird die Wahrheit, was damals zu Ronaldos Anfall führte, jemals ans Licht kommen? Ronaldo scheint sich kaum noch damit beschäftigen zu wollen. In Madrid sagte er der Tageszeitung „El País“ kürzlich: „Ich kann es nicht erklären. Ich weiß nur, dass ich mich sehr krank fühlte, dass wir ins Krankenhaus fuhren und alle nur möglichen Tests machten. Medizinisch war nichts, rein gar nichts.“ Zico bewertet den 12. Juli 1998 heute als schlechtes Krisenmanagement der brasilianischen Delegation, bleibt aber merkwürdig nebulös: „Es sind noch andere Dinge passiert, aber das ist alles, was ich sagen kann.“

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